Wieder sehr aktuell: Plattenbauten

Vor ziemlich genau 100 Jahren fragte sich der Architekt Charles-Éduard Jeanneret-Gris, der spätere Le Corbusier, ob man Häuser nicht auch fabri­zieren könne?! Solcherart Produkte könne man dann in seinen (megalomanen) Stadtentwürfen verwenden. Tatsächlich gehen Industrialisierung und Massenwohnungsbau in vielerlei kultureller und technologischer Verwebungen untrennbar einen langen gemeinsamen Weg, bis heute, wo die Problematik der massenhaften Wohnbaufertigung zudem noch mit dem fröhlichen Diktum der Resilienz im Städtebau konfrontiert ist.

In dieser Gemengelage – Produktionsansprüche und Produktionsvermeidung – bietet es sich an, in die Geschichte der Industrialisierung des Wohnungsbaus zurückzuschauen. Und hier gelangt man – wen wundert es – schnell in die 1950er- bis 1980er-Jahre der DDR-Zeit, die mit der Produktion hunderttausendfacher Plattenbauten im zumindest europäischen kollektiven Gedächtnis ganz weit vorne steht.

Und weil das Thema umfangreich und eine erläuterungsbedürftige Vorgeschichte hat und weil zudem der Herausgeber dieses Thema liebt und viel dazu schon publizierte, sind es zwei Bände geworden, die aktuell erschienen sind. Nicht im Schuber, wie man es erwarten könnte, eher als zwei Querschotte, die – einmal aufgestellt – auf Fassadenabschluss, Wand und Decke warten.

In festes Papier eingeschlagen, auf schönem Werkpapier sauber ins Buchformat gesetzt, beginnt die Arbeit mit den Voraussetzungen des industriellen Wohnungsbaus. Mit dem technischen Fortschritt, neuen Materialien, neuem Denken über das, was nun als rückständig erscheinen muss. In der DDR konnte das alles in gewisser Weise kulminieren, weil ,anders als im anderen Teil Deutschlands, die Wohnungsnot nach dem Krieg 1939–45 im sogenannten „Sozialismus“ als eine zentrale soziale Frage angegangen wurde, die 1990 erledigt sein sollte.

Die Arbeit zeigt klar strukturiert die Entwicklungen der verschiedenen Systeme und Serien (L1, P1, QP, Qx oder L Q, WBS70-INB 80-C und Anpassung etc.), taucht tief ein in Typenreihen und Typenserien, gönnt uns einen schönen Exkurs zur – dieser Bauweise wohl immanenten – Kunst am Bau und erweitert das Spektrum um Block und Streifen.

Im zweiten Teil (zweiten Band) geht es dann ins Große, in die Planung ganzer Straßenzüge, Stadtteile, Städte mit vorfabrizierten Elementen. Hier kommen neben der Planung des Stadtraums ganz im Sinne der klassischen Moderne noch zahlreiche Unterthemen wie Farbigkeit oder Bauen im Bestand und sogar das Thema Rekonstruktion (eher im Sinne von Ersatzneubau) und viele weitere Aspekte der DDR-Baupraxis zur Sprache.

Insgesamt ergibt die Lektüre einen sowohl in der historisch kulturellen, kontextuellen Einordnung des „Plattenbaus“ in den Zeitenlauf ein deutlich milderes Bild von der – noch immer – im schlechten Licht dastehenden Massenbauweise. Hintergründe über politisch Gewolltes und ingenieurstechnisch entwickelte Produktionsverfahren erlauben es, Parallelen zu sehen zu heutigen Bemühungen, das Bauen über Vorfertigung und Typi­sierung zu beschleunigen und kostengüns­tiger zu machen. Dass da am Ende auch Straßen, Viertel, ja sogar auch Stadt entstehen kann, die Resilienz-Kriterien zu erfüllen in der Lage ist, macht die kleine, feine, bilderreiche und gut lesbar gehaltene Bucharbeit wertvoll. Nicht zuletzt auch damit, dass sie uns noch jede Menge Plattenbauten zeigt, deren Zukunft zumindest ungewiss ist, die zu sehen und die wiederzusehen jedoch Ansporn sein sollte, auf Reisen zu gehen; nach Halle (Saale) zum Beispiel. Mit Orts- und Personenverzeichnis sowie ausgewählter Literatur. Be. K.

Vom seriellen Plattenbau zur komplexen Großsiedlung. Industrieller Wohnungsbau in der DDR 1953–1990. Mit einem Fotoessay v. M. Camagna. 2 Bde: 1: Historischer Kontext, Serientypen und bezirkliche Anpassungen, 2: Neue Städte, Großsiedlungen und Ersatzneubauten. Hrsg v. Philipp Meuser. DOM Publishers, Berlin 2022, 368 S. u. 368 S., 950 Abb.78 €, ISBN 978-3-86922-859-4
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