Le Corbusier in Oberhessen

Oberhessen hat schöne Fachwerkhäuser und -kirchen. Moderne Einflüsse zeigen sich vornehmlich in der Zerstörung der Dorfbilder und durch Gewerbegebiete, die sich als Architekturmüll­deponien ins Land fressen. Der Landstrich zählt also nicht zu den Zielen von Architekturpilgerfahrten und mit Le Corbusier würde man ihn schon gar nicht in Verbindung bringen. Und dennoch, er war hier. Selbst Oberhesse, studierte ich den 1980er-Jahren an der TU Darmstadt Architektur. Le Corbusier war dort der meistbesprochene Architekt, aber es bedurfte 30 Jahre, um beiläufig zu lesen, dass der „große Meister“ beinahe durch meinen Vorgarten gelaufen ist.

April 1911: Charles-Eduard Jeanneret folgte der Einladung seines Freundes August Klipstein (1885 – 1951) in dessen Elternhaus nach Laubach. Beide hatten sich 1909 in München über einen Aushang von Klipstein kennengelernt, der in Jeanneret zuerst den gesuchten Französisch-Konversationspartner und nach einiger Zeit einen Freund fürs Leben fand. Jeanneret war nach Beendigung seiner Mitarbeit im Büro Behrens nach Laubach gereist, wo beide ihre anstehende Reise nach Südosteuropa planen wollten. In der Fachwerkstadt überragt das Schloss der Grafen von Solms-Laubach die kleinen und zerklüfteten Anwesen. Davon unterschied sich die großzügige, im 19. Jahrhundert erbaute Hofanlage der Familie Klipstein, zu der auch ein zum Wohnen genutzter Stadtturm gehörte. In diesem lebten der Maler und Augusts Bruder Felix (1880 – 1941) und dessen Frau Editha (1880 – 1953), eine Malerin und Schriftstellerin. Man verstand sich sofort prächtig und Jeanneret schrieb: „Ich habe 12 ganz phantastische und unvorhergesehene Tage in Laubach verbracht. Mitten in Hessen, weit entfernt von jeder Stadt. Ein schrecklich pittoreskes Dorf. Misthaufen, spitze Giebel mit unverschämt unregelmäßigen Holzquadraten [...] Der Gastwirt heißt Peter und fast jeden Abend vergessen wir, um 11 Uhr zu ihm zu gehen, um für 2 Pfennige ein Glas Apfelwein zu trinken.“ (In: Guiliano Gresleri, Le Corbusier. Reise nach dem Orient. Spur Verlag 1991)

Erste Ideen zu einem großen Atelier-Atriumhaus für das Künstlerehepaar Klipstein nahm Jeanneret wohl mit auf die „Reise nach dem Orient“. Die 1914 gefertigten Skizzen zeigen ein Gebäude, das man sich auch in Südeuropa vorstellen könnte. Einen herrlich hessischen Blick hätte es vom angedachten Bauplatz oberhalb des heutigen Schwimmbads gegeben.

Die Künstlerfamilie Klipstein verlor durch Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise ihr Vermögen, an einen Hausbau war nicht mehr zu denken. Man zog stattdessen in ein kleines erweitertes Aufseherhaus eines aufgelassenen Steinbruchs. Auch dafür hatte Jeanneret Ideen beigesteuert. August Klipstein wurde erfolgreicher Kunsthändler in der Schweiz und Jeanneret zum berühmten Le Corbusier. Es blieb eine große Freundschaft, bezeugt durch zahlreiche Briefe zwischen allen Klipsteins und Le Corbusier – für mich ein neuer Blick auf den „großen Meister“. Paul-Martin Lied

www.klipstein-stiftung.de
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