Solarraupe
+e Kita im Vitosareal, Marburg

Die +e Kita in Marburg gilt schon jetzt als Pilotprojekt, nicht nur, weil sie den Plusenergiestandard erfüllt, also mehr Energie erzeugt, als verbraucht wird. Furore macht vor allem die ungewöhnliche Solarfassade, die sich aus der Dachstruktur entwickelt. Die Solarmodule wurden nicht additiv eingesetzt, sondern haben als integraler Bestandteil der Gebäudehülle eine gestaltbildende Funktion. Das Projekt ist auch Teil der Pilotphase für AktivPlus Gebäude des AktivPlus e.V.

„Ich freue mich immer, wenn ein Projekt so eine dynamische Entwicklung nimmt,“ sagt Andreas Sedler von opus Architekten, zusammen mit Anke Mensing Entwurfsverfasser der +e Kita in Marburg. „Auch wenn die Gestaltung letztlich in unserem Büro entstanden ist – wir sind die Architekten, das ist unsere Aufgabe –, so war der Prozess der Zusammenarbeit in diesem Projekt für die Gestaltbildung richtungsweisend.“ Tatsächlich ist die Gebäudehülle der Plusenergie-Kita das gelungene Ergebnis einer beispielhaften integralen Kooperation der verschiedenen Planungsdisziplinen.

Bereits zu den Vorgesprächen mit dem Bauherrn war Sedler zusammen mit einem Energieplaner von ee concept erschienen. Für das Pilotprojekt einer Plusenergie-Kita hatte die Stadt Marburg mehrere Architekturbüros eingeladen. opus Architekten wurde ausgewählt und präsentierte drei Skizzenentwürfe. Neben dem Plusenergiestandard gehörten zu diesem Zeitpunkt eine hohe Anspruchs­-
haltung an die Architektur und die Integration in das denkmalgeschützte Klinikgelände zu den Vorgaben der Bauherrschaft. Die Lage des Grundstücks im Park des Vitosareals und die Nachbarschaft einer kleinen historischen Kapelle waren weitere ausschlaggebende Faktoren für die Rahmenbedingungen. Gemeinsam mit ee concept und dem Bauherrn entschied man sich für einen zweigeschossigen Baukörper, der auf einer Lichtung so in einen Hang geschoben ist, dass er den Kindern auf beiden Seiten den ebenerdigen Ausgang zu den Spielbereichen ermöglicht. Das Flachdach, durch die Zweigeschossigkeit aus der Verschattungszone gehoben, sollte solaraktiv genutzt werden.

Plusenergiekonzept für ein Pilotprojekt
ee concept war zu diesem Zeitpunkt bereits an der Positionierung des Gebäudes beteiligt. Aufgrund einer Flächenstudie war der Korpus wegen der hohen Bäume in der Nachbarschaft tiefer im Baugrundstück platziert worden, um ausreichenden Solarertrag zu ermöglichen. Außerdem steuerten Sebastian Fiedler und Martin Zeumer eine Vorstudie bei, mit der die Nutzung der Potentiale für den Plusenergiestandard ausgelotet werden konnten. Die beiden Architekten und Energieberater aus dem Unternehmen ee concept, das auf eine Ausgründung aus der TU Darmstadt zurückgeht, konnten für das Projekt +e Kita auf ihre Erfahrungen aus drei deutschen Beteiligungen an dem Internationalen Wettbewerb Solar Decathlon zurückgreifen. Nach ihren Berechnun­gen wäre in diesem Fall für die Deckung des Endenergiebedarfs ein Flachdach die bessere Lösung gewesen, weil durch flachliegende Photovoltaikelemente eine fast 100%-ige Flächenausnutzung hätte erzielt werden können.

Die Stadtwerke als Betreiber der PV-Anlage bestanden hier jedoch auf einem hohen Modulwirkungsgrad und wollten die Module aufständern. Eine aufgeständerte PV-Anlage mit einem Flächenwirkungsgrad von nur noch 40 bis 50 % passte jedoch weder zu den endenergetischen Vorstellungen der Energieplaner noch zum gestalterischen Konzept der Architekten. So verhandelten die beiden Planungsparteien mit den Stadtwerken einen Aufständerungswinkel, der den Renditevorstellungen der Stadtwerke entgegenkam und den Entwurf entscheidend veränderte.

Faltwerk für Dach und Fassade
Architekt Andreas Sedler erweiterte seine Entwurfsidee konsequent um den offensiven Umgang mit der solaraktiven Gebäudehülle und entwickelte daraus eine Form, die Photovoltaik nicht nur in das Dach, sondern auch in die Fassade aufnimmt. Die ee concept steuer-te den Begriff der „Solarraupe“ bei. Für das Dach wurde eine Shedform entwickelt, die mit Neigungswinkeln von 17 und 23 ° die PV-Module aufnehmen kann, ohne dass sich die Sheds gegenseitig verschatten. Durch die Faltung wird die Ausrichtung der Solar-
module auf der Westfassade in Süd-West-Richtung optimiert und die solaraktive Oberfläche vergrößert. Mit einer Eigenverschattungsstudie errechnete ee concept dafür einen geringen Flächenwirkungsverlust von
2 bis 3 %. Aus der Analyse der Standardmaße wurden für die 354 PV-Module fünf projektspezifische Modultypen entwickelt.
Zu diesem Zeitpunkt kamen die Tragwerksplaner vom Ingenieurbüro osd – office for structural design ins Boot und unterstützten die Planung bei der Suche nach einer nachhaltigen Lösung für die Umsetzung des Entwurfs. Klaus Fäth von osd spricht von einem „gemeinsamen Entwickeln, bei dem jeder seinen Ideen einbrachte und diese von verschiedenen Ausgangspunkten im Teamwork zusammengeführt wurden – ein wirklich integraler Prozess.“ Das Ergebnis spiegelt die bereits gestalterisch gefundenen Einheiten auch konstruktiv wider: Das abgewandelte Dachfaltwerk und die sich daraus entwickelnde, ebenfalls gefaltete Südwestfassade wurden in Holzleichtbauweise erstellt, der sich über den Massivbau der beiden Geschossebenen erhebt. Aufgesattelt auf schlanken Stahlstützen scheint das Faltdach darüber zu schweben und prägt den Innenraum durch die sichtbare Dachstruktur. Die Fassadenfalten lagern auf der dafür sägezahnartig ausgeschnittenen Geschossdecke. Dadurch entstehen im Innenraum erkerähnliche Ausgucke. Die Flanken sind entsprechend der Dachstruktur nach Südwesten mit Photovoltaik belegt und nach innen geschlossen; nach Nordwesten wurden sie großflächig verglast und öffnen den Innenraum zum Park. Schwierig gestaltete sich die Suche nach einem Anbieter für die projektorientierte Zusammenarbeit. „Für so ein individuelles Projekt müssen Hersteller gefunden werden, die nicht nur Standardmodule verkaufen, sondern bereit sind, mit den Projektplanern zusammenzuarbeiten“, weiß Martin Zeumer. Problematisch war insbesondere die Herstellung der dreieckigen Modulelemente, deren Anzahl im Planungsprozess bewusst reduziert worden war, bis mit einem österreichischen Hersteller eine Lösung gefunden werden konnte. Alle 354 Module wurden mit monokristallinen Siliziumzellen speziell für dieses Projekt hergestellt. Wegen der langen Lieferzeit der Module musste die Fassade exakt vorgeplant werden, Maßanpassungen auf der Baustelle waren im Nachhinein nicht möglich.
Projektmanagement und Moderation
Mit dem Projektmanagement war die SEG, eine Tochter der Stadt, beauftragt. Die Moderation oblag dem Architekten. Das war bei der großen Anzahl an Projektbeteiligten, zu denen neben den zahlreichen Planern auch das Hochbauamt, der Betreiber, die Kita-Leitung sowie das Vitosareal gehörte, eine komplexe Aufgabe. Von seiner Vorschlagliste, die Andreas Sedler für das Planungsteam eingereicht hat, wurden nur die beiden genannten Büros beauftragt, auch das vergrößerte den Aufwand für die Koordination der Fachplaner. „Die Vergabepraxis bei öffentlichen Projekten erhöht die Reibungsverluste“,  so Andreas Sedler, „natürlich wäre es einfacher, mit einem erprobten Team zu arbeiten. Trotzdem versuchen wir in allen unseren Projek-ten, integrativ zu arbeiten, weil das für das Ergebnis wichtig ist.“  Denn eine gute Zusammenarbeit kommt sowohl dem Bau als auch der Baukultur zugute – zu sehen in Marburg an der +e Kita im Vitosareal. IS
Baudaten
Objekt: Neubau +e Kita (Plusenergie-/Solar-Kindertagesstätte) Marburg
Standort: Cappeler Straße 68, 35039 Marburg
Bauherr: Magistrat der Universitätsstadt Marburg
Nutzer: 
Gesamtverband der ev. Kirchengemeinden, Marburg
Architekt/Bauleitung:
opus Architekten BDA Andreas Sedler und Anke Mensing, 64289 Darmstadt, www.opus-architekten.de
Mitarbeiter: Kristin Egermann, Uwe Kühn, Jessica Mazur, Tina Ritter
Projektsteuerung: Stadtentwicklungsgesellschaft (SEG) Marburg mbh, www.seg-marburg.de
Bauzeit: 2012-2013, Fertigstellung 2014
Fachplaner
Energieplaner:
ee concept, 64295 Darmstadt, www.ee-concept.de
Tragwerksplanung: osd-office for structural design, 60329 Frankfurt a. M., www.o-s-d.com
Techn. Gebäudeausrüstung: Plan4Life – Ingenieur-büro TGA, Biebertal, www.hls-plan.de
Elektrotechnik: Schaub & Kühn, IB Elektrotechnik, Marburg,
Landschaftsarchitekt: Köhler Landschaftsarchitekten, Fernwald, www.koehler-landschaftsarchitekten.de
Projektdaten
Grundstücksgröße: 4 500 m²
Nutzfläche gesamt: 845 m²
Hauptnutzfläche:  340 m²
Brutto-Grundfläche: ca. 1 100 m²
Brutto-Rauminhalt: ca. 4 000 m³
Baukosten
KG 300: 2,4 Mio. €
KG 400: 650 000 € KG 500: 200 000 €
Gebäudehülle
Dach: PV-Module auf Unterkonstruktion, Dachabdichtung, Unterkonstruktion, Bitumenbahn, Schalung 21 mm, Sparren 360 mm mit Dämmung ausgeflockt, Klimamembran, OSB Platte 18 mm, Abhangdecke mit Akustikfilz und Kieferlattung
Außenwand PV: PV Module auf UK Schienen, Abdichtungsbahn, OSB-Platte 15 mm, Holzständerwerk 320 mm ausgefüllt mit Wärmedämmung WLG 040, Dampfbremsfolie, OSB-Platte 15 mm, Wandverkleidung mit Akustikfilz und Kieferlattung
Pfosten-Riegel-Fassade: 3-fach-Verglasung
Außenwand Blechfassade: Aluminiumblech auf UK, Abdichtungsbahn, OSB-Platte 15 mm, Holzständerwerk 370 mm ausgefüllt mit Wärmedämmung WLG 040, OSB 15 mm
Außenwand EG gg. Erdreich: Innenputz, Stb. 250 mm, PE-Folie, Glasschaumschotter 500 mm
Bodenaufbau: Linoleum, Schnellestrich 55 mm, Systemplatte mit Fußbodenheizung 35 mm, Wärmedämmung 60 mm, Abdichtungsbahn, Stb.-Platte 330 mm, PE-Folie, Glasschaumschotter 500 mm, Geotextilvlies
U-Wert Fassade-Regelbauteil UG    = 0,135 W/m²K
U-Wert Fassade-Regelbauteil OG    = 0,15 W/m²K
U-Wert Dach                                      = 0,15 W/m²K
U-Wert Fenster Regelbauteil            = 0,82 W/m²K
U-Wert Boden-Regelbauteil             = 0,116 W/m²K
Ug-Wert Verglasung                          = 0,6 W/m²K
Blower-Door-Messung: n50               ≤ 0,69 /h
Gebäudetechnik
Zentrale Lüftung mit hocheffizienter WRG (Küchenlüftung ohne WRG), Wärmeübergabe über Fußbodenheizung, zwei Luft-Wasser-Wärmepumpen für Trinkwasser und Heizung mit indirekt beheizten Speichern, Photovoltaikanlage Dach und Fassade (auf 365 m² wurden 354 monokristalline PV-Module installiert mit einer Leistung von 55 kWp), Energiegewinn nach PV-Simulation inkl. Eigenverschattung 40 690 kWh/a
Energiebedarf
Primärenergiebedarf Qp:     - 24,01 kWh/m²a
Endenergiebedarf Qe:           - 9,27 kWh/m²a
nach Berechnung Effizienzhaus Plus (inkl. Nutzerstrom und Energieüberschuss PV)
x

Thematisch passende Artikel:

DGNB Preis „Nachhaltiges Bauen“

Finalisten bekannt gegeben

Die DGNB veröffentlicht drei Finalisten des diesjährigen DGNB Preises „Nachhaltiges Bauen“. Deutschlands wichtigster Architekturpreis für nachhaltige Gebäude wird in diesem Jahr an ein Projekt...

mehr
Ausgabe 11/2016

Energetische Symbiose Kita Krambambuli, Frankfurt-Kalbach

Der alte Kindergarten in Frankfurt-Kalbach war ein ein-geschossiger Flachbau aus den 1960er-Jahren. Als die­-ser um zwei neue U3-Gruppen erweitert werden sollte, sollte dafür ein Neubau auf dem...

mehr
Ausgabe 12/2020 Weitergenutzt und aktiviert

Kita Karoline Goldhofer, Memmingen

Kita Karoline Goldhofer, Memmingen - heilergeigerarchitekten, Kempten

Das Architekturbüro heilergeiger architekten aus Kempten setzt sich bei vielen seiner Projekte intensiv mit dem Erhalt des Bestands auseinander. Und so war auch bei diesem Projekt schnell klar, dass...

mehr
Ausgabe 09/2012

Klimaneutrale Kita

Die Kindertagesstätte „Die Sprösslinge“ in Monheim erhielt bereits mehrfach Auszeichnungen für ihr klimaneutrales Energiekonzept. Die Betriebskindertagesstätte ist das erste EcoCommercial...

mehr
Ausgabe 02/2021 Kita Karoline Goldhofer, Memmingen

Preisträger Kita Karoline Goldhofer, Memmingen

Das Konzept der Kita Karoline Goldhofer in Memmingen im Allgäu vereint Konstruktion, Energie, Bestand und Nutzung und entstand aus der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Fachplanern. heilergeiger...

mehr