Gebautes Demokratie­verständnis

Oodi Bibliothek, Helsinki/FI

Die Bibliothek Oodi im Zentrum von Helsinki wurde nicht nur mit dem Stahlbau- und dem Detail-Preis, sondern auch aufgrund ihres inhaltlichen Konzepts als beste Bibliothek der Welt ausgezeichnet. Der von ALA Architects entworfene Bau funktioniert nämlich trotz seiner imposanten Erscheinung sehr gut als ein vielfältiger Bildungs-, Arbeits- und Begegnungsort für Jedermensch.

Durch die ausgesprochen freundliche, helle und, durch sehr viel Holzoberflächen, warme Atmosphäre fühlen sich die Besucher der neuen Bibliothek bereits beim Betreten des über 100 m stützenfreien Foyers wohl und willkommen. Trotz der Größe des Gebäudes und einer weit auskragenden Vordach-Fassade bleibt das Gebäude dem Versprechen treu, den NutzerInnen ein niederschwelliges, innovatives und inklusives Angebot zu machen. Dem Zugang zu Büchern für jeden und jede wird in Finnland große Bedeutung beigemessen: Lesenkönnen, Wissenstransfer, Bildung ohne Ausgrenzung sind wesentliche Grundlagen der finnischen Kultur und der politischen Haltung. So ist es nicht verwunderlich, dass es sich bei einem der Vorzeigebauten des Landes um eine Bibliothek handelt. Dabei ist Oodi (übersetzt „Ode“) nicht nur eine Ausleihestelle für Bücher und andere Medien, sondern Begegnungsort, Rückzugsort, aber auch Co-Working-Space, Urban-Work-Space und Bücherei in einem. Und sie ist das Ergebnis eines gelungenen partizi­pativen Planungsprozesses, bei dem die EinwohnerInnen Helsinkis aufgefordert waren, sich mit ihren Ideen einzubringen. Zehn Workshops, eine Online-Befragung und über 2 300 Anregungen der NutzerInnen zeigen, wie ernst die Partizipation von beiden Seiten genommen wurde. Auch der Name Oodi entstammt diesem Prozess.

„Der Auslobungstext zum Wettbewerb, den wir 2013 für uns entscheiden konnten, glich eher einem Buch als einer Broschüre“, erinnert sich Antti Nousjoki, Partner im Büro ALA Architects. „Der Bauherr, also die Stadt Helsinki, hatte über zwei Jahre mit einer Vielzahl von Fachleuten und unter Einbindung der Bevölkerung und des Personals diese Vorgaben detailliert erarbeitet.“ Wie wurde das umfassende Raumprogramm mit den unterschiedlichsten Arbeitsplatzangeboten nun von den ArchitektInnen umgesetzt?

Das Raumprogramm

„Oft, wenn wir entwerfen, ist es ein Wechselspiel zwischen unserer aus dem Städtebau entwickelten Idee des Baukörpers und der inneren Organisation des Gebäudes“, so Architekt Nousjoki. „Hier allerdings haben wir zunächst das gesamte Raumprogramm strukturiert und organisiert, bevor wir begonnen haben, die entstandene dreigeschossige Floating-Box zu modellieren.“ Zunächst also entschieden sich die Architekt­Innen dafür, das umfassende Raumangebot in drei Bereiche zu gliedern und diese auf die drei Ebenen zu verteilen. Das Erdgeschoss als Fortführung des öffentlichen Platzes beherbergt neben Informationstischen ein Restaurant-Café, einen multifunktionalen Veranstaltungsraum, ein Kino und flexibel nutzbare Veranstaltungs- und Begegnungsflächen. Auf einer Tafel wird darauf hingewiesen, dass zielloses Herumhängen in dieser Bibliothek explizit erwünscht sei.

Aber natürlich wird hier auch gearbeitet, wenn auch nicht nur lesenderweise. So befinden sich im nahezu fensterlosen ers­ten Obergeschoss unter anderem die so genannten Urban-Work-Spaces. Jeder und jede kann sich beispielsweise einen Platz an einer der Nähmaschinen, an einem 3D-Drucker oder einem Laser-Cutter reservieren lassen. In kleinen Tonstudios kann Musik aufgenommen werden, ein voll ausgestatteter Übungsraum steht privaten Bands zur Verfügung. Hier herrscht eine trubelige, in den abgetrennten Co-Working-Spaces oder Einzelarbeitsräumen auch eine deutlich ruhigere Arbeitsatmosphäre. Aufgrund vieler Computer- sowie anderer Technik-Arbeitsplätze war Tageslichtnutzung auf dieser Etage in vielen Bereichen bewusst nicht gewollt.

Im Obergeschoss schließlich befinden sich die Regale mit etwa 100 000 Titeln. Die illuminierten Aluminium-Regale stehen in einer offenen, bewegten Leselandschaft mit einem Holzfußboden, Rampen, Stufen, echten Bäumen in Pflanzkübeln und unterschiedlichsten Sitzgruppen. Auch hier gibt es ein Café und an den Schmalseiten abgetrennte Lese- und Vorleseräume. Während das mittlere Geschoss quasi ohne Fenster auskommt, ist das Obergeschoss durch eine umlaufende Glasfassade lichtdurchflutet. Die nach oben abschließende Decke ist nicht plan, sondern wirkt wie eine wogende Welle, die den Raum nach oben abschließt. Ein Dekor auf den Fensterscheiben sorgt dafür, dass das Sonnenlicht im Sommer gestreut wird. Im Winter wirkt das Muster von innen wie Schneeflocken, die vor der Scheibe tanzen, von außen unterstützt es durch eine Art Milchglas-Effekt die schwebende Wirkung des Dachgeschosses. Nach oben gerichtete Strahler an den Stützen und Leuchten in den Oberlichtern sorgen für eine helle und ruhige Lese-Atmosphäre. „Es war für uns als Lichtplanerinnen nicht immer leicht, die Wünsche der Architektinnen mit den Notwendigkeiten zur Ausleuchtung in Einklang zu bringen“, erläutert Anne Ylinen, Lichtdesignerin bei Rejlers, Finnland. „Wir brauchten beispielsweise im ersten Obergeschoss Leuchten, die durch ihre Größe genug Licht spenden und keine Blendung verursachen. Der Architekt wollte aber sehr kleine Leuchten, die gut in das Raster der Decke passen. Am Ende wurden zusätzliche Leuchten an den Arbeitstischen installiert.“

Baukörper

Entstanden war aus den Raumvorgaben also zunächst ein einfacher Riegel mit drei Ebenen recht unterschiedlicher Charakter: öffentlich belebte, nicht-kommerzielle Indoor-Plaza im Erdgeschoss, kreative Arbeitsatmosphäre im dunklen Industrie-Look im Obergeschoss und helle, freundliche Lesestimmung mit weitem Ausblick über die Stadt unter dem „Wolkenhimmel“ im Dachgeschoss. Im weiteren Entwurfskonzept ging es den ArchitektInnen darum, diesen schlichten Riegel zu modifizieren, um ihm seinen individuellen Charakter zu verleihen; aber auch, um ihn städtebaulich einzubinden und den Nutzer­Innen weitere Angebote, wie beispielsweise den großen Balkon, zu machen. So entstand der Schwung an der westlichen Gebäudeseite zum Platz hin. Hier wurde die mit Holz verkleidete Fassade so in sich verdreht und aus dem Gebäude heraus geformt, dass sie den BesucherInnen fast horizontal ein großes Dach über dem Eingangsbereich bietet, das zugleich als Sonnenterrasse im Obergeschoss dient. Modelliert wurden auch die Gebäudeecken, die so angehoben wurden, dass insbesondere die spitz zulaufende Südseite Assoziationen mit einem Schiffsbug aufkommen lässt.

Über dem Eingang erhebt sich die Glasfassade in einem großen Bogen. Die Form dient hier als Geste und technische Notwendigkeit zugleich, denn sie entstammt der statischen Grund-idee einer Brücke. „An dieser Stelle des Platzes durften keine tiefen Fundamente in die Erde gesetzt werden, da hier langfristig ein Tunnel unter dem Platz entlangführen soll. Gleichzeitig konnten wir so den Foyerbereich frei von Stützen halten“, erläutert Nousjoki. Wesentliches Element der Statik sind daher zwei Rundbögen aus Stahl mit einer Spannweite von 109 m. Die Bögen stehen leicht nach außen geneigt und sind über Fachwerkträger miteinander verbunden. Diese werden auf der Platzseite fortgeführt, um hier die auskragende Dachterrasse zu tragen. Im Obergeschoss sind die holzummantelten Fachwerkträger der Stahlkonstruktion sichtbar. Neben und unter ihnen entstanden im Bereich der Sitzstufen ungewöhnliche Raumsituationen und Nutzungsoptionen.

Die Zusammenarbeit zwischen den Architekten und der Fachplanung war der Komplexität des Gebäudes entsprechend nicht ohne Herausforderungen. So war es beispielsweise für die TragwerksplanerInnen nicht so einfach, das Volumen der statisch notwendigen Brückenkonstruktion innerhalb der durch das Raumprogramm und die Statik des Wettbewerbs vorgegebene Architektur unterzubringen. Vereinfacht wurde die Planung durch ein BIM-Modell.

Datenmodellierung war auch eine große Hilfe in Bezug auf die Unterbringung der Gebäudetechnik. So leitete jedes Planungsbüro einmal pro Woche sein Datenmodell an die Projektbank, wo alle Planungen in einem IFC-Datenmodell überprüft werden konnten. Insbesondere die Ausformung des Gebäudes mit teilweise unregelmäßig gekrümmten Flächen brachte mit sich, dass die Technik in Räumen und Hohlräumen ungewöhnlicher Formen untergebracht werden musste. Auch die stählerne Bogenkonstruktion hatte Auswirkungen auf die Gebäudetechnik, da sie zu Bewegungen von bis zu 14 cm führen kann. Entsprechend flexibel mussten die hier verlegten Kanäle und Leitungen ausgeführt werden.

Von den Bürgern, für die Bürger

Die Finnen bezeichnen ihre Bibliotheken gerne als „Volkes Wohnzimmer“, was zeigt, dass die Grundidee des Oodi durchaus Tradition hat. Ein solch großes, umfassendes Angebot ist allerdings auch in Finnland neu und müsste mindestens noch um die Begriffe „Volkes Arbeitsraum“ und „Volkes Werkstatt“ erweitert werden.

Mit der Eröffnung des Baus im Dezember 2018, einen Tag vor dem Finnischen Unabhängigkeitstag, feierten die Finnen auch ihre Demokratie, ihr hohes Bildungsniveau und den gleichberechtigten Zugang zu Informationen, der die Diversität der BesucherInnen berücksichtigt. Mit entsprechend hoher Akzeptanz und einem gewissen Stolz wurden daher auch die Baukosten von 98 Mio. €, die aus Steuergeldern finanziert wurden, mitgetragen. Für die Besucher entstehen Kosten übrigens nur für Material. Selbst die Büchereikarte ist in Finnland kos­tenfrei. Nina Greve, Lübeck

Baudaten

Objekt: Oodi Bibliothek Helsinki

Ort: Helsinki, Finnland

Typologie: Bibliothek, Kino

Eigentümer: Stadt Helsinki, Abteilung Städtische Umwelt, Gebäude und öffentliche Bereiche, Räumlichkeiten

Architektur: ALA Architekten, Helsinki/FI, www.ala.fi

Bauzeit: September 2015 – Januar 2019

Grundstücksfläche 4 792 m²

Bruttofläche 17 062 m²

Hauptnutzfläche 13 434 m²

Bruttovolumen 108 260 m³

Gesamtkosten: 98 Mio. €

Hersteller

Fassade: Stora Enso, Helsinki/FI, www.storaenso.com; Timbeco Woodhouse Oü, Harju maakond/EE,

www.timbeco.ee; Timberpoint Oy, Valko/FI, www.timberpoint.fi

Verglasung: Windoor AS, Harju maakond/EE, www.windoor.ee

Türen: Jaatimet Oy, Somero/FI,

www.jaatimet.fi; Abloy, Stockholm/SE, www.abloy.com      

Boden: Teppman Oy, Helsinki/FI, www.temmann.fi; Loimaan Kivi, Loimann/FI, www.loimaankivi.fi; I­deapuu  Oy, Helsinki/FI, www.ideapuu.fi;  Lumir  Oy, Vantaa/FI, www.lumir.fi

Sanitär: Dyson, Malmesbury/GB, www.dyson.de; Oras Oy, Rauma/FI, www.oras.com; Duravit,

www.duravit.de  

Heizung/ Heizungssteuerung: Itula Oy, Puntala/FI, www.itula.fi

Gebäudeautomation: Fidelix Oy, Vantaa/FI, www.fidelix.fi

Software / CAD / BIM: Revit,

www.autodesk.com; Solibri Model Checker, www.solibri.com; Rhinoceros, www.rhino3d.com; Grasshopper, www.grasshopper3d.com

Erweitertes Wohnzimmer und sozialer Treffpunkt mit Civic Purpose: Die Bibliothek als Typologie diversifiziert sich genauso markant wie die heutigen Arbeitsweisen. Das bildet dieses Projekt ab: kein exklusiver Raum für Bildungselite, sondern ein vielseitiger Ort mit demokratischen „zero threshold“-Zonen sowie zurückgezogenen, fokussierten Leselandschaften, in dem das Individuum und das Kollektive zusammenkommen.«
DBZ Heftpartner, HENN, Berlin
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