Besser getrennt

Aufstockung Halle 118, Winterthur/CH

Auf dem Lagerplatz Winterthur stockte das baubüro in situ eine bestehende
Lagerhalle auf. Das Besondere: Ein Großteil der Konstruktion besteht
aus gebrauchten Bauteilen.
Das Konzept überzeugt.

„Nur wer weiß, was er sucht, kann finden“, sagt Marc Angst ganz am Anfang unserer Besichtigung der Halle 118 in Winterthur. Der Bau, eine dreigeschossige Aufstockung auf einer ehemaligen Halle der Sulzer Modellschreinerei in Winterthur, belegt mit zwölf Ateliers und Büros, ist gemäß den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft konzipiert. Das heißt, die verbauten Materialien stammen zu einem Großteil aus Abbruchobjekten. Angst ist zusammen mit Pascal Hentschel Co-Projektleiter bei baubüro in situ, einem Pionier auf diesem Gebiet. In situ-Gründerin Barbara Buser hatte bereits vor rund zwanzig Jahren die erste Bauteilbörse der Schweiz initiiert.

Anfang März wurde die Aufstockung in Winterthur bezogen. Die 115 000-Einwohner-Stadt nordöstlich von Zürich hat eine große industrielle Vergangenheit: Die Firma Sulzer, eine einstige Metallgießerei, prägte rund 150 Jahre lang Stadt und Städtebau. Anfang der 1990er-Jahre wurden durch den Strukturwandel die 22 ha großen industriellen Flächen in bester Lage inmitten der Stadt frei. Einen Teil davon sicherte sich die Stiftung Abendrot, eine Pensionskasse, die eine nachhaltige Anlagestrategie verfolgt. Bei ihren Arealentwicklungen pflegt sie einen minimal­invasiven Ansatz: Der Bestand wird möglichst erhalten; ist etwas kaputt, wird repariert statt abgerissen. Im Fall der ehemaligen Modellschreinerei inmitten des Sulzer-Areals bestand seitens der Bauherrschaft der Wunsch nach mehr Fläche. Sie beauftragte daraufhin in situ mit der Aufstockung des Kopfbaus.

Huhn oder Ei?

Als Kreislaufwirtschaftslaie kann man sich den Entwurfsprozess mit bestehenden Bauteilen nur schwer vorstellen. Nicht unbedingt wegen der Second-Hand-Verwendung der Bauteile – das unplanbare Moment der Verfügbarkeit ist der Haken. Oder anders gefragt: Wird erst entworfen, und anschließend werden die passenden Teile gesucht, oder ergibt sich das Konzept aufgrund der vorhandenen Bauteile? Marc Angst antwortetet auf diese Frage mit dem eingangs erwähnten Zitat. Tatsächlich handelt es sich um eine Art rollende Planung, die sich gegenseitig bedingt. Etliche Rahmenbedingungen sind durchaus fix, etwa das Raumprogramm oder gesetzliche Vorgaben wie Dimensionen, Abstände etc. Statt einem genauen Abbild werden eher Regeln festgelegt, bei Halle 118 beispielsweise bei den Fenstern: Die eingesetzten Second-Hand-Fenster variieren zwar in der Größe, sind aber innerhalb vertikaler Bänder angeordnet, sodass die Fassade trotzdem ruhig wirkt.

Darüber hinaus hat diese Art der Architektur einen ganz eigenen Reiz und auch eine eigene konstruktive Logik. So stammt beispielsweise das Stahltragwerk der Aufstockung aus einem ehemaligen Verteilzentrum einer Supermarktkette in Basel. Die Dimensionen – 16 x 16 m – passten nahezu perfekt auf den Bestand, abgesehen von einer Abschrägung an der Südostfassade.

Während die ArchitektInnen anfangs noch planten, den Bau formgleich in die Höhe zu extrudieren, änderten sie nach dem Fund des Tragwerks und den Empfehlungen der beteiligten Bau­ingenieurInnen ihre Meinung. Sie verwendeten das Stahl­skelett in seiner originalen quadratischen Form. Ab dem 4. Geschoss kragt es nun aus und komplettiert dabei eine arealinterne Flucht, die in den unteren Geschossen durch den Verlauf eines Industriegleises unterbrochen ist.

Ein weiteres Fundstück war die sechsgeschosse hohe Stahl-außentreppe. Sie gab die Höhe der Geschosse vor und zeigt exemplarisch eines der Konstruktionsprinzipien: „Ein Bauteil anzupassen ist weitaus schwieriger, als die Idee zu adaptieren“, sagt Marc Angst. Im Fall der Halle 118 bedeutete dies, dass die Raumhöhen etwas großzügiger gehalten sind als unbedingt notwendig und dass eine kleine Terrasse den oberen Abschluss des sechsgeschossigen Baus bildet.

Ein echter Leuchtturm

Die Lasten der Aufstockung werden nach dem Haus-in-Haus-Prinzip innerhalb des Bestands abgeleitet, die ursprüngliche Bausubstanz war statisch dafür nicht ausreichend dimensioniert. Die Aufstockung selbst besteht aus dem Stahlskelett, ausgefacht mit unbehandelten Strohballen aus konventioneller Getreideernte, die innen gleichzeitig als Putzträger für den Lehmputz aus einer nahen Baugrube dienen. Sie zeigen ein weiteres Konstruktionsprinzip: Wo es starre Elemente gibt wie das Tragwerk und die wieder verwendeten Fenster, braucht es adaptierbare Teile wie das Stroh, dass ohne Materialverlust passgenau eingearbeitet werden kann. Generell gilt: Bauteile, die einen hohen Grad an Fertigung aufweisen, sind möglichst zu erhalten bzw. wieder zu verwenden. So stammt auch die Photovoltaikanlage auf dem Dach aus zweiter Hand. Sie fiel am Ursprungsstandort einer Dachsanierung zum Opfer und wäre entsorgt worden – trotz voller Funktionsfähigkeit und immenser gespeicherter Grauenergie.

Auffallendstes Merkmal der Aufstockung ist die leuchtend orange­rote Fassade aus gewellten Aluminiumplatten. Die Platten stammen aus einer Druckerei in Oberwinterthur und verdeutlichen ein weiteres Konstruktionsprinzip: Weil die Platten drei verschiedene Arten von Profilen aufweisen, sind sie geschuppt montiert. Entkoppeln und Schichten lautet das Prinzip, das auch für andere Elemente und Materialien gilt.

Auf der Jagd nach Bausubstanz

Gibt es auch Materialien, bei denen das Recycling keinen Sinn macht? Grundsätzlich sei das eine Frage des Aufwands, sagt Angst. Alles, was für den Wiedereinbau noch aufwendig bearbeitet werden müsse, eigne sich weniger. Werden neue Bauteile eingesetzt, versuche in situ jeweils, Zusatzfunktionen zu integrieren; beispielsweise einen Farbakzent oder einen passgenauen Öffnungsflügel in einer Vorsatzschale aus starr fixierten Second-Hand-Fenstern. Essenziell für diese Art des Bauens ist aber letztendlich die Bewirtschaftung der Bauteile. Bei in situ ist dabei ein neuer Beruf entstanden – jener des Bauteiljägers. Tatsächlich sind Suche, Analyse und Dokumentation ebenso wie später Demontage, möglicherweise Lagerung, die Aufbereitung und der Wiedereinbau mit mehr Aufwand verbunden als bei einer konventionellen Planung. Bei der Halle 118 wurde seitens der Bauherrschaft dafür ein Vorschuss gewährt. in situ hat bei der Bauteilsuche viel Wissen erworben. So eignen sich gemäß Marc Angst Bauten der Finanzbranche der 1990er-Jahre sehr gut für das Bauteilrecycling. Die Wertigkeit der damals eingesetzten Materialien sei generell hoch und die Konstruktion sei reversibel, das Fügeprinzip erkennbar. Heutige Bauweisen mit ihrem Anspruch an Dichtigkeit sowie die Verwendung von Verbundstoffen und hoher Baugeschwindigkeit seien aus der Recyclingperspektive gesehen hingegen katastrophal.

Ob und wie stark sich die Bauteil-Wiederverwendung ökologisch auszahlt, untersuchte in situ zusammen mit dem Architektur-Departement der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Mit positivem Ergebnis: So konnte die CO2-Bilanz gegenüber einem konventionellen, identisch materialisierten neuen Bau ohne Mehrkosten um etwa zwei Drittel reduziert werden.

Und auch der architektonische Ausdruck überzeugt: Die rote Fassade ist eine weithin sichtbare Landmarke und die Patina der Oberflächen und die Aufputzinstallationen im Innern passen bestens zum Werkstattcharakter der Nutzungen.

⇥ Tina Cielsik, Bern/CH

Gute Beispiele für das Aufstocken von Gewerbe- und Industriehallen wie bei der Halle 118 sind rar. Vor allem als Ressource für’s Flächensparen. Die Wiederverwendung des Bestands ist bis zum Einsatz vorhandener Bauteile aus Rückbauten ganzheitlich gedacht. Die roh belassenen Konstruktionen prägen die Atmosphäre und machen Zirkularität erfahrbar.«

DBZ Heftpartner heilergeiger architekten und

stadtplaner BDA, Kempten

Baudaten

Objekt: Kopfbau Halle 118

Standort: Lagerplatz 24,

Winterthur/CH

Bauherr: Stiftung Abendrot,

Basel/CH

Architektur: baubüro in situ ag, Zürich/CH, www.insitu.ch

Projektteam: Pascal Hentschel und Marc Angst, Benjamin Poignon, Kers-tin Müller, Barbara Buser mit Michèle Brand, Fabian Kuonen, Nina Hsu, Geraldine Clausen, Michèle Toboll, Jan Bauer, Laia Meier

Realisation: baubüro in situ ag, mit Pasquale Baumanagment, Zürich/CH,

www.pasquale-baurealisation.­ch und Valerie Waibel Architektin, Winterthur/CH

Bauzeit: 2017–2021

Fachplaner

Tragwerk: Oberli Ingenieurbüro AG, Winterthur/CH, www.oberli-ing.ch

Holzbau: Josef Kolb AG, Winterthur/CH, www.kolbag.ch

Bauphysik: 3D Bauphysik Huth GmbH, Glashütten/CH, www.3dbauphysik.ch

Akustik: Raumanzug Gmbh, Zürich/CH, www.raumanzug.eu

Brandschutz: ProteQ GmbH, Winterthur/CH, www.proteq.ch

HLKS: Russo Haustechnik-Planung GmbH, Winterthur/CH,

www.russo-htp.ch

Elektroplanung: EGO Elektriker Genossenschaft, Winterthur/CH,
www.ego-elektro.ch

Beratung Stroh- und Lehmbau: Ralph Künzler, Winterthur/CH,

www.ig-lehm.ch; Benedikt Kaesberg, FASBA, Verden, www.fasba.de;

www.baustroh.de

Projektdaten

Bausumme total (inkl. MWSt.): 4,8 Mio. €

Anteil wiederverwendete Bauteile an Baukosten (Bauteilbeschaffung): 12 %

Gebäudevolumen SIA 416: 5 809 m³ GV

Geschossfläche SIA 416: 1 534 m² GF bzw. 1 168 m² HNF

Energie-Standard: SIA 2040 Effi­zienzpfad Energie

Wärmeerzeugung: Fernwärme Stadtwerke Winterthur/CH

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