Kontrollierte Erosion im Lehmbau

Das Wohnhaus von Martin Rauch in Schlins räumt mit Vorurteilen auf; und ist trotz aller ökologischer Correctnes eine wahre Schönheit

In Schlins entwarf Martin Rauch gemeinsam mit dem Architekten Roger Boltshauser ein Stampflehmhaus ohne Dachüberstand. Rauch – eine Autorität im Lehmbau – erbaute das Haus 2005 bis 2007 mit seinem Betrieb Lehm Ton Erde Baukunst. Besonders mutig: Für den Lehm wurde trotz Freibewitterung kein Stabilisator verwendet.

Das Bauen mit Stampflehm ist auch in der Schweiz und in Österreich weitgehend unbekannt. In Deutschland entstanden Stampflehmbauten im Wesentlichen ab dem Ende des 18. Jahrhunderts – allerdings unter anderem Namen: Pisé-Bauweise nennt man das Stampflehmverfahren, das auf den ersten Blick nicht so recht nach Nordeuropa passen will. Das höchste Stampflehmhaus Deutschlands steht in Weilburg – und das seit mehr als 150 Jahren: ein 1827 errichtetes sechsgeschossiges Wohnhaus.

Freibewitterter Stampflehmbau

Martin Rauch geht mit seinem Wohnhaus in Schlins noch einen Schritt weiter: Er verzichtet sowohl auf einen weit ausladenden Dachüberstand als auch auf eine vorgestellte Fassade, die den Lehm vor der Witterung schützen könnte. Mehr noch: Er verzichtet trotz Freibewitterung sogar auf einen Stabilisator im Lehm. Rauch spricht von „kontrollierter Erosion“ und meint damit eine Grundhaltung, die sich nicht an einem Ewigkeitsanspruch fest macht, sondern in der permanenten Veränderung aller Dinge ihren passenden Ausdruck findet. „Das Zulassen von Veränderungen, wie etwa das Altern von Oberflächen, ist beim Lehmbau Konstruktions- und Gestaltungsstrategie“, meint Rauch. Er kann dies auch, denn er hat in Deutschland und der Schweiz Erfahrungen im Stampflehmbau gesammelt wie kein Zweiter. Die Kapelle der Versöhnung in Berlin und das Kongresszentrum in Alpbach gehen auf seinen Betrieb Lehm Ton Erde Baukunst zurück – und das sind nur zwei von über 30 bereits ausgeführten Gebäuden.

Konstruktiver Wetterschutz

Stampflehm ohne Stabilisator muss konstruktiv vor der Witterung geschützt werden. Da dies in Schlins weder ein weit ausladender Dachüberstand noch eine vorgestellte Fassade tut, musste Martin Rauch einen anderen konstruktiven Wetterschutz erfinden, der auch in der Schweiz einen freibewitterten Stampflehmbau möglich macht. Der Clou: In den Stampflehm wurden Schichten von Ziegelplatten eingearbeitet, die aus der Fassadenoberfläche herausragen. Diese verleihen dem Gebäude nicht nur die von horizontalen Linien gegliederte Fassadenstruktur, sondern brechen den Schlagregen, was einen langsamen Wasserfluss an der Fassade und damit eine stark verminderte Erosion zur Folge hat. „Der Feinlehmanteil wird dabei anfangs in großer Menge abgespült, wobei das im Stampflehm enthaltene Steingranulat stabilisierend auf die Lehmoberfläche wirkt, das heißt, die Erosion wird in der Folge langsamer“, erklärt Martin Rauch.

Feuchtesichere Gründung

Grundlage für einen standsicheren Stampflehmbau ist im wahrsten Sinne des Wortes ein gutes Fundament – und gut meint in diesem Zusammenhang vor allem vor Wasser geschützt. Die Handwerker stellten daher die Streifenfundamente aus Beton (C15) mit geringem Anteil an Zement und unter Beimischung von Trasskalk bis in eine Tiefe von 60 cm unter dem Keller ohne Stahlbewehrungen her. Nachdem sie die Betonschalung abgenommen hatten, verlegten sie an den Außenseiten der Fundamente und auf deren Mauerkronen Bitumenbahnen. So sind die Fundamente selbst und die direkt darauf aufgesetzten Kelleraußenwände vor Feuchtigkeit von unten geschützt. Da auch die Kellerwände aus Stampflehm hergestellt wurden, erhielten diese nach Austrocknung außen ebenfalls eine Lage Bitumenpappe sowie eine Glasschaumdämmung. „Damit kein Hangwasser unter dem Haus durchrinnen kann, haben wir die Fundamentbasis außen mit fettem Lehmschlag abgedichtet“, sagt Rauch.

Als man beim Aushub alte Tonrohre fand, kam der Bauherr auf die Idee, diese zur Fundamententwässerung zu nutzen. „Die Funktionsfähigkeit solcher Tonrohre ist nachhaltig: Durch die kapillare Materialstruktur funktionieren sie auch dann noch, wenn sie komplett verschlammt sind“, kommentiert Martin Rauch sein Material- beziehungsweise Bauteilrecycling. Diese Drainage funktioniert in Verbindung mit dem Lehmschlag so gut, dass die aus Stampflehm hergestellten Kellerböden keiner Abdichtung bedurften.

Herstellung der Stampflehmwände

Da keine Stabilisatoren verwendet wurden, wird die Festigkeit der Stampflehmwände ausschließlich über die Verdichtung und Verzahnung des im Aushub vorhandenen Steinmaterials erreicht. Damit kommt sowohl der Ausführung der Stampflehmarbeiten als auch der Auswahl des richtigen Korndurchmessers der Zuschläge besondere Bedeutung zu. In Schlins wurde Steinmaterial mit einer Korngröße bis 30 mm Durchmesser verwendet. „Dieses gesiebte Aushubmaterial verfügt über eine ausgezeichnete Qualität in der Sieblinie, um tragende Wände zu erstellen“, sagt Martin Rauch. Er spricht aus Erfahrung, und die ist es auch, die ihn die Dicke aller Wände mit 45 cm festlegen ließ. „Diese Wanddicke hat sich im Hinblick auf ihre konstruktiven, bauphysikalischen, formalen und ausführungstechnischen Eigenschaften bewährt“, so Rauch. Der Lehm wurde erdfeucht in 10 bis 12 cm hohen Schichten zwischen die Gleitschalung geschüttet und mit dem Pressluftstampfer auf etwa 8 cm Schichthöhe verdichtet. Nach jeder dritten Lage wurden die Ziegelplatten an der Schalungsaußenkante eingelegt und mitgestampft.

Der Einbau der für einen Stampflehmbau vergleichsweise großen Fensteröffnungen erforderte auch für Martin Rauch ein vollkommen neues Verfahren: Ein mit Betonstahl armierter Sturz wurde mit Trasskalk vor Ort auf der Baustelle gegossen und durch eine 15 cm dicke Stampflehmschicht verkleidet. Dazu stampften die Handwerker zunächst die 15 cm dicke Lehmschicht in die Schalung ein, entfernten die Innenschalung und drehten in diesen Lehmwandteil Schrauben hinein, die 3 cm herausstehen. Daran fixierten sie den Sturz. Im Anschluss wurde die Stahlarmierung positioniert und danach mit Trasskalk vergossen.

Innendämmung aus Schilfrohrmatten

Innen erhielten die Wände eine Schilfrohrdämmung, die anschließend mit Lehm maschinell verputzt wurde, wodurch die Wanddicke auf insgesamt 65 cm wuchs. Auch auf die in Stampflehmbauweise hergestellten Innenwände klebten die Handwerker mit Lehm 5 cm dicke Schilfrohrmatten im Format 2 x 1 m, die sie zusätzlich mit Schrauben sicherten. „Schilf ist einer der wenigen nachwachsenden Rohstoffe, der durch seinen hohen Alkalianteil ohne Konservierungsmittel verwendet werden kann“, erläutert Martin Rauch. Über der ersten Lage Schilfrohrmatten befindet sich eine zweite wiederum mit Lehm verklebte Schicht Schilfrohrdämmung. Da das Haus ständig bewohnt wird, kommt es auch bei noch so guter Dämmung nicht ohne eine Heizung aus. Daher verlegten die Handwerker auf den innen gedämmten Außenwänden im Lehmputz eine Wandheizung aus 8 mm dicken flexiblen Kunststoffrohren.

Ringbalken und Deckenformen

Um im dreigeschossigen Gebäude die Lasten aus den auch als Mann-an-Mann-Decken bezeichneten Dippelbaumdecken (es liegt Balken an Balken) in die Stampflehmaußenwände sicher übertragen zu können, bedurfte es jeweils auf Deckenhöhe eines Ringbalkens mit eingelegter Stahlarmierung, der außen 15 cm dick mit Stampflehm überdeckt ist. Andere Decken wurden als Ziegelfaltdecke, Gewölbe und auch als Glasbausteinkuppel zur natürlichen Belichtung des Treppenhauses ausgebildet. Für letztere verwendeten die Handwerker eine Leichtbetonmischung, die sie über eine Negativform der Kuppel zwischen die darauf verteilten runden Glasbausteine gossen. Von innen erhielt der Leichtbeton der Glasbausteinkuppel einen bis zu 5 cm dicken Überzug aus farblich dem Stampflehm angepassten Lehmputz.

Für die Ziegelfaltdecke (Hourdisdecke) stellten die Handwerker hingegen die gleichen Ziegelplatten, wie sie sie bereits in die Stampflehmaußenwände gelegt hatten, als verlorene Schalung auf die umgekehrt eingebauten T-Stahlträger. Zunächst legten sie die Ziegelplatten auf eine Hilfsschalung aus Holzlatten, anschließend wurden die Fugen mit Lehmmörtel verstrichen. „Dadurch ist die Konstruktion stabil. Sie dient gleichzeitig als Schalung für den Trasskalkmörtel, der später beim Vergießen der Deckenplatte abgedichtet wird“, erzählt Martin Rauch.

Treppenhaus und Stufen aus Lehm und Trasszement

Im Gegensatz zu allen anderen Räumen im Haus sind die Stampflehmwände im Treppenhaus innen abgerundet. Dies hat gleich mehrere Gründe: sowohl statische als auch thermische; zudem lassen sich die drei Geschosse hohen Stampflehmwände in der runden Form einfacher ausführen.

Eine handwerkliche Herausforderung war der Einbau der Stufen in die Treppenhauswände. Hierzu belegten die Handwerker die abgerundete, geschosshohe Innenschalung für die Treppenhauswände mit einer glatten, 4 mm dicken Paneelplatte, auf der sie den Treppenverlauf 1:1 aufzeichneten. Die für die Aussparung der einzelnen Stufen aus Holz vorbereiteten Schalungskörper stampften die Handwerker nach und nach mit in die Wand ein.

Auch die 8 cm dicken Treppenstufen selbst sind handwerklich eine ausgesprochene Besonderheit: die Mitarbeiter von Lehm Ton Erde Baukunst fertigten sie mit einer Stahlarmierung auf der Baustelle im Gießverfahren aus gewaschenem Aushublehm unter Zugabe von grünlichem Gesteinssplitt und Trasszement. Nach dem Aushärten wurden sie in einem Steinmetzbetrieb geschliffen und poliert. Wieder auf der Baustelle angekommen, schoben die Handwerker die Stufen einfach in die Schalungskörper ein. Die Fuge zwischen den Treppenstufen und den Schalungskörpern wurde anschließend mit Gips vergossen.

Tradition und Moderne vereint

Mit seinem freibewitterten Stampflehmhaus beweist Martin Rauch seinen Mut als erfahrener Lehmbauer und das handwerklich Können der Mitarbeiter seines Betriebs Lehm Ton Erde Baukunst. Die für einen „klassischen Stampflehmbau“ untypisch großen Fensteröffnungen erschaffen gemeinsam mit der horizontalen Linienstruktur der in den Stampflehm eingelegten Ziegelplatten den Brückenschlag zwischen traditioneller Handwerkstechnik und moderner Architektur. Die Einbindung der Ziegelplatten in den Herstellungsprozess der Stampflehmwände ist eine von vielen handwerklichen Erfindungen von Martin Rauch, die dieser in seinem Haus in Schlins umgesetzt hat. Solche handwerklichen Details mach ihn zu einem Vorreiter des Lehmbaus überhaupt. (Quelle: Bauhandwerk)

Baubeteiligte (Auswahl)

Bauherr: Lehm Ton Erde Baukunst GmbH, Schlins
Nutzung: Martin Rauch bewohnt das Haus mit seiner Familie als Musterhaus und Forschungsprojekt
Architekten: Roger Boltshauser, Zürich, Martin Rauch, Schlins
Holz- und Lehmbauarbeiten: Lehm Ton Erde Baukunst GmbH, Schlins, www.lehmtonerde.at Stahlbauarbeiten: Hermann Kreativ, Satteins, Lehm Ton Erde Baukunst GmbH, Schlins
Fensterbau: Bischof KG, Türingerberg

Thematisch passende Artikel:

01/2021

» CO₂-Werte und Ressourcenverbrauch werden zukünftig das Baumaterial bestimmen «

Herr Rauch, warum erfährt der Lehmbau aktuell eine solche Aufmerksamkeit? Lehm kann Antworten geben auf viele Fragen unserer Zeit: Der Baustoff ist regional verfügbar und seine Gewinnung und...

mehr
7/8/2019

Robotische Fabrikation von Bauteilen aus Stampflehm

Haus Rauch in Schlins, 2007 von Roger Boltshauser und Martin Rauch

Ein hoher Anteil des Ressourcen- und Energieverbrauchs in Deutschland ist dem Bausektor zuzuordnen [1]. Vor diesem Hintergrund wird der Ruf nach einem Umdenken immer lauter. Der Bund Deutscher...

mehr
09/2019 Konsequent klimagerecht konstruiert

Alnatura Campus, Darmstadt

Alnatura Arbeitswelt, Darmstadt - haascookzemmrich STUDIO205

Wenn ein Bio-Großhändler einen neuen Campus für sein Unternehmen baut, kann man davon ausgehen, dass Nachhaltigkeit und Klimaschutz eine große Rolle spielen. Tatsächlich gehörten minimaler...

mehr
10/2022

Feuerprobe für den Lehmbau

Die zur Klimakrise gehörenden Entwicklungen, ob Ursachen oder weitere Konsequenzen, werden immer intensiver spürbar. Wetterextreme, Bio­diversitätskrise sowie Rohstoffverknappung sind nur einige...

mehr
10/2021 Im Gespräch mit ... Jasmine Alia Blaschek und Christof Ziegert, ZRS Architekten Ingenieure www.zrs.berlin.de

Der Lehmbau schießt gerade durch die Decke!

Frau Blaschek, Herr Ziegert: Wie kam es zu dieser interdisziplinären Zusammenarbeit? J.?B.: Harald Meller, der Direktor des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, und seine...

mehr