Wohnungsbau Nekkersput, Gent/BE
Das belgische Büro DBLV architecten baute ein Wohngebäude in Gent aus den 1960er-Jahren um und erweiterte es um zwei Neubauten. Im engen Korsett der Tragstruktur des Bestands gelang es den Planer:innen, eine unerwartete Vielfalt von Wohnungstypologien und -größen zu generieren, die dem scheinbar banalen Wohnbau die Qualität von übereinandergestapelten Einfamilienhäusern gibt.
Text: Michael Koller
Nordwestlich der Genter Innenstadt, im Stadtteil Brugse Poort-Rooigem liegt ein achtgeschossiger Wohnriegel aus den 1960- Jahren in einer ruhigen Wohnstraße mit dreigeschossigen Reihenhäusern und Giebeldächern. Hier bricht die ansonsten homogene Blockbebauung des Quartiers in eine lose Ansammlung von Einfamilienhäusern und freistehenden, zwei bis dreigeschossigen Doppelhäusern auf – eine Umgebung, in der der 60 Jahre alte Mehrgeschosswohnungsbau auffällt. DBLV architecten (Dierendonck – Blancke – Lust – Van de Ginste) haben ihn 2020 für den sozialen Bauträger SHM „De Gentse Haard“ umgebaut und durch zwei Neubauten ergänzt. Mit ihrem Konzept konnten sie das Haus vor dem Abriss bewahren und als neues Ensemble städtebaulich in das Umfeld integrieren.
Ein effizientes Ensemble
Das Ensemble setzt sich aus drei Bauwerken zusammen: dem zentral liegenden, länglichen und geradlinigen achtgeschossigen Wohnbau (Bestandsumbau) und zwei lateralen viergeschossigen Wohnbauten mit übereinander gestapelten Maisonettewohnungen, die die Straßenflucht der übrigen Reihenhäuser aufnehmen. Durch die versetzte Anordnung der Baukörper entsteht straßenseitig ein Vorgarten. Er schafft die nötige Distanz zwischen Straße und erdgeschossigen Wohnungen und dient den Architekt:innen dazu, den Höhenunterschied von 1 m zwischen Straße und dem Erdgeschoss des Bestandsbaus mithilfe von sanft ansteigenden Zugangstreppen und -rampen zu überwinden. Die beiden Neubauten sind in einem Abstand von 1,20 m vom Bestandsgebäude platziert. Der so entstehende Zwischenraum erlaubt es, vom Vorplatz zum Hinterhof zu gelangen, in dem sich neben den Stellplätzen auch eine der beiden außenliegenden Wendeltreppen befindet. Die beiden Treppen – die andere wurde straßenseitig situiert – sind über Laubengänge brückenartig sowohl mit dem dritten Obergeschoss des Altbaus als auch mit dem obersten Wohngeschoss der Reihenhäuser verbunden.
Der Bestandsbau aus den 1960er-Jahren steht auf dem ehemaligen Gelände einer Farbenfabrik. DBLV architecten haben ihn umgebaut und um zwei Neubauten ergänzt
Foto: Thuispunt Gent
Das Quartier um die Nekkersputstraße ist eine
lose Ansammlung von Einfamilienhäusern und
freistehenden, zwei- bis dreigeschossigen Doppelhäusern
Foto: Filip Dujardin
Die viergeschossigen, neu hinzugefügten Baukörper mit ihren jeweils drei erdgeschossigen und drei obergeschossigen Maisonettewohnungen nehmen nicht nur die Gebäudeflucht der bestehenden Reihenhäuser auf, sondern auch die Gebäudehöhen. Durch den Rücksprung der Straßenfassade im 3. Obergeschoss nehmen sie sich optisch gegenüber den Reihenhäusern der Nachbarschaft zurück. Der Rücksprung erlaubte den Architekt:innen zudem, eine großzügige, ostseitige Terrasse vorzusehen, die gleichzeitig als Zugang zu den Maisonettewohnungen des 3. beziehungsweise 2. Obergeschosses dient.
Aus Kostengründen und um den Bauvorschriften zu genügen, wurden nur an der westlchen Rückseite des Bestands 120 cm tiefe Fertigteilbalkone angeordnet. Im Nachhinein gesehen, hätten die Architekt:innen allerdings gerne noch tiefere und damit funktionellere Balkone angebracht
Foto: Filip Dujardin
Umbau statt Abriss
Ein erster, vom Bauherrn an die Stadt vorgelegter Bebauungsplan des ehemaligen Firmengeländes einer Farbenfabrik sah den Abriss aller noch bestehenden Gebäude vor. Eine damals noch existierende Regelung des Dekrets über die Grundstücks- und Immobilienpolitik, das die Flämischen Regionen handhabten, das sogenannte Grond- en Pandendecreet, schrieb dem Bauherrn den Neubau einer bestimmten Anzahl von Sozialwohnungen vor. Diese Vorschrift diente der sozialen Durchmischung der Stadtviertel und der Schaffung von dringend notwendigen, sozialen Mietwohnungen. Allerdings hätte die geforderte Anzahl an Wohnungen nach dem Abriss des Bestandsgebäudes in Form von 4-geschossigen Neubauten – der Vorgabe des Stadtbauplans – nicht erreicht werden können.
Die horizontal ausgerichteten weiß glasierten Riemchen werden nur auf der Höhe der Geschossdecken und der Schotten durch eine rahmenartige Anordnung unterbrochen. Außerdem wurden sie im Erdgeschoss und 3. Obergeschoss vertikal verklebt
Das von DBLV architecten vorgeschlagene Bebauungskonzept und der Erhalt des bestehenden Wohnblocks mit den beiden Ergänzungen vereinte laut der Architekt:innen drei wesentliche Vorteile in sich: Erstens konnten mit dem umstrukturierten Bestandsgebäude und den beiden Zubauten die geforderte Anzahl von Wohnungen realisiert werden. Zweitens war der Umbau gegenüber einem Abriss und Neubau nachhaltiger und ressourcenschonender, weil die verbaute, graue Energie minimiert werden konnte. Ein Faktum, das auch bei der Stadt Unterstützung fand. Und drittens konnte durch die zwei lateralen, leicht abgerundeten Bauwerke der städtebauliche Anschluss an die bereits existierenden Häuser in der Nekkersputstraat realisiert werden.
Die neuen Fertigteilbalkone an der Westseite des Bestands fügten die Planer:innen als separate Tragkonstruktion hinzu. Dafür bedurfte es einer Ausnahmegenehmigung der Baubehörde
Foto: Filip Dujardin
Von Geschoss- zu Doppelgeschosswohnungen und Durchwohnern
Äußerlich lässt nichts erahnen, dass der Bestandsbau im Inneren einer vollständigen Transformation und einem grundlegenden Umbau der Wohnungstypologien unterzogen wurde. Aus ost- oder westseitig orientierten Geschosswohnungen machten die Architekt:innen beidseitig orientierte Doppelgeschosswohnungen. Ein dreidimensionales Tetris-Spiel, bei dem die Wohnungen in Schottenbauweise mit den zentralen von Nord nach Süd verlaufenden Aussteifungswänden in vielfältigster Weise ineinander verschachtelt und übereinander gestapelt wurden, ohne dadurch die ursprüngliche Tragstruktur des Wohnbaus aus den 1960er Jahren anzutasten.
„Einerseits war das Bauwerk völlig abgewohnt. Andererseits eignete sich seine Ausrichtung ideal für querdurchlüftete, ost-west orientierte Wohnungen“, wie Architekt Hans Lust erzählt, „die orthogonal zur Nord-Südachse des Bauwerks liegenden Schotten brachten uns erst darauf, dass man die monoorientierten Wohnungen durch punktuelle Anpassungen der Tragstruktur völlig neu organisieren könnte.“ Sein Büropartner Architekt Alexander Dierendonck ergänzt: „Der Grundgedanke der Neuorganisation der Wohnungen lag in der Idee, das Wohnzimmer, das Esszimmer und die Küche auf derselben Ebene anzuordnen“. Je nach der Position der jeweiligen Wohnung innerhalb des bestehenden Baukörpers, des Geschosses und dem Abstand zu den vertikalen Erschließungen, wurden im Anschluss auf derselben Ebene oder der darüber bzw. darunterliegenden Erschließungsebene der Apartments noch ein oder zwei Schlafzimmer organisiert.
Bestand und Neubauten sind über einen Laubengang im 3. Obergeschoss miteinander verbunden. Das erlaubt den Bewohner:innen der Zubauten, die beiden Lifte des Bestandsgebäudes mitzunutzen
Foto: Filip Dujardin
Um das zu ermöglichen, griffen die Architekt:innen auf das Erschließungskonzept der Wohnmaschinen von Le Corbusier mit innenliegenden Gängen im dritten und sechsten Obergeschoss zurück. Auf diesen Zugangsebenen befinden sich die wohnungsinterne Treppe ins darunter- oder darüberliegende Geschoss sowie ein bis zwei separate Schlafräume. In den meisten Fällen entstanden durch die geschickte Kombination der 3,50 m breiten, 11,40 m tiefen und nur 2,43 m hohen Volumen zwischen den Schotten Fünfzimmerwohnungen. „In einem Neubau hätten wir diese Wohnungsvielfalt und diese Wohnungsgrößen nie realisieren können“, resümiert Dierendonck.
Durch die beiden ergänzenden Neubauten gelang den Architekt:innen der städtebauliche Anschluss an die Nachbarbeauung
Die Sechszimmerwohnungen der viergeschossigen Neubauten mit ihren vier Schlafzimmern sind hingegen 5,60 m breit und im Allgemeinen 12,00 m tief. Dadurch entstanden gut belichtete, ost-, oder westseitig orientierte Wohn-, Ess- und Schlafräume. Die zentralen Bereiche der Wohnungen werden durch die effizient gehaltenen, zweizeiligen und offenen Küchen und die Abstell- und Sanitärräume eingenommen. Um keinen wertvollen Raum zu verlieren, wurden unter den Treppen separate Toiletten angeordnet.
Aus Kostengründen und um den Bauvorschriften zu genügen, wurden nur an der westlichen Rückseite des Bestands 120 cm tiefe Fertigteilbalkone angeordnet. Im Nachhinein hätten die Architekt:innen gerne noch tiefere und damit funktionalere Balkone angebracht
Foto: Filip Dujardin
Optimale Nutzung
Da es sich bei dem Bauwerk um den Umbau eines bereits bestehenden Gebäudes handelte, konnten mit der Baubehörde verschiedene Ausnahmeregelungen verhandelt werden. So wurde es erst möglich, die 1,20 cm tiefen Fertigteilbalkone an der Westseite als separate Tragwerkskonstruktion hinzuzufügen. Beim Umbau der Installationen für die Küchen und Nasszellen konnten sich die Architekt:innen größtenteils der bestehenden Abfallschächte bedienen und den Bau neuer Installationsschächte weitestgehend vermeiden. Die Integration derselben Abfallschächte im Bereich der zentralen Treppenhäuser ermöglichte, die beiden Liftanlagen zu erneuern und zu vergrößern, ohne ihre Lage verändern zu müssen.
Die Architekt:innen konnten Türen und Fensterrahmen aus Holz mit den Bauherrn verhandeln. Ansonsten blieb die Ausführungsqualität einfach
Foto: Filip Dujardin
Dezentes Auftreten
Die einfachen Geometrien, die Verwendung von weiß glasierter Klinkerriemchen und die vorgesetzten langgestreckten Balkone erzeugen ein Erscheinungsbild, das die gesamte Anlage als ein zeitgenössisches Wohnbauprojekt charakterisieren. Die großformatigen Fassadenöffnungen der ehemaligen Fensterbänder und Schiebetüren der Balkone wurden mit Backsteinen teilweise zugemauert oder an die neuen Fensterformate angepasst. Alle Fassaden des Bestandsgebäudes wurden daraufhin außenseitig 14 cm dick gedämmt und mit Klinkerriemchen verkleidet, um die zusätzlichen Lasten im Bereich der Fundamente möglichst gering zu halten. Das Fassadenbild mit den schmalen, hochkantigen Fensterrahmen entstand aus pragmatischen Überlegungen. Es wurde auch an den Fassaden der beiden Neubauten angewandt, um eine optische Einheit zwischen Alt und Neu zu kreieren: in den Wohn- bzw. Esszimmern findet man beinahe raumhohe, dreigeteilte Fenster mit einer Fixverglasung in der Mitte, während die Schlafzimmer einfache Fenster mit Drehrahmen besitzen.
Durch eine geschickte Neusortierung der Grundrisse konnten die Architekt:innen Durchwohner realisieren, ohne die Tragstruktur des Gebäudes anzupassen. An den Fassadenseiten befinden sich Wohn-, Ess- und Schlafräume, im Kern offene Küchen und Abstell- sowie Sanitärräume
Foto: Filip Dujardin
Wohnen mit Mehrwert
„Neben dem Bauherrn sind wir vor allem den Bewohnern gegenüber verpflichtet, optimale Wohnungen anzubieten,“ betont Alexander Dierendonck. Dementsprechend sieht er es als größte Errungenschaft, dass sie den Bauherrn überzeugen konnten, seine ursprünglichen Intention fallen zu lassen, das Bestandsgebäude abzureißen, und es stattdessen zu verändern und anzupassen. Das Projekt Nekkersput zeigt auch, dass innerhalb der engen Grenzen des sozialen Wohnungsbaus ein Mehrwert fürs Wohnen geschaffen werden kann, nicht nur durch eine unkonventionelle Raumorganisation und -nutzung, sondern auch durch die Schaffung von querdurchlüfteten und lichtdurchfluteten Wohnungen mit viel Platz im Freien.
1. Obergeschoss, M 1 : 750
Foto: Filip Dujardin
Grundriss-Schema
Bestand, o. M.
Foto: Filip Dujardin
DBLV architecten, Gent/BE
Isabelle Blancke, Alexander Dierendonck
www.dblvarchitecten.eu
Foto: Dba
DBLV architecten, Gent/BE
Lieve Van de Ginst
www.dblvarchitecten.eu
Foto: L.U.S.T. architecten
DBLV architecten, Gent/BE
Hans Lust
www.dblvarchitecten.eu
Foto: L.U.S.T. architecten
Projektdaten
Objekt: Nekkersput
Standort: Nekkersputstraat 61-187 9000 Gent/BE
Typologie: Sozialer Wohnungsbau
Bauherr: SHM ‘De Gentse Haard’
Architektur: DBLV (Dierendonckblancke - Lust – Van de Ginste) architecten, Gent/BE,
www.dblvarchitecten.eu;
www.dierendonckblancke.eu
Projektteam: Alexander Dierendonck, Isabelle Blancke, Hans Lust, Lieve Van De Ginste, Lorenz Adriaens, Koen Schoukens, Pieter Mouton, Charlotte De Vreese, Guillaume Delporte, Sylvia Roelens, Bob Beckers, Guglielmo Giagnotti
Generalunternehmen: Bekaert,
www.bekaert.com
Bauzeit: 08.2018 – 03.2020
Grundstücksgröße: 4 045 m²
Grundflächenzahl: 0,29
Brutto-Grundfläche: 6 805 m²
Baukosten gesamt brutto: 8 192 000 €
Fachplanung
Tragwerksplanung: Sileghem & Partners, Zwevegem/BE,
www.sileghem.be
TGA-Planung: Tech 3, Gent/BE,
www.tech3.be
Landschaftsarchitektur: Lieve Van de Ginste, DBLV architecten, Gent/BE
Hersteller
Beleuchtung: Zemper,
www.zemper.com; Prolumia,
www.prolumia.de
Heizung: Vaillant, www.vaillant.de
Lüftung: Renson, www.renson.net
Rauchabzugsanlage: Sicli,
www.sicli.be
Sanitär: Grohe, www.grohe.de; Hansa, www.hansa.com
Dämmung: RB-Isol, www.rb-isol.be