Wege ins Œuvre

Das Original ist natürlich nicht zu kaufen oder wäre schlicht zu teuer: ein Notizbuch mit den Skizzen und Notizen Le Corbusiers. Das Interesse an diesem Notizbuch, das im Februar/März 1951 auf dem späteren Bauplatz des immer noch sagenhaften Chandigarh entstand, ist bis heute berechtigt, zwingt den Forscher allerdings zur Reise nach Paris, wo Teile des Le Corbusier-Nachlasses archiviert liegen, mit eben dem „Album Punjab“.

Dass Le Corbusier nicht nur Architekt und Stadtplaner war, sondern auch ein umfangreiches Werk mit Zeichnungen, Malereien und Plastiken hinterlassen hat, dazu jede Menge gedruckte Bücher und zahllose Auftritte in (Dokumentar-)Filmen, unterstreicht nicht allein seinen Drang nach dem Gesamtkunstwerk (wie auch dem nach gehöriger Selbstinszenierung), es stellt auch seine einmalige Bedeutung für seine Zeit heraus, die wohl bis heute andauert und uns bis heute Fragen aufgibt.

So darf man sich freuen, dass mit der Leidenschaft eines Verlegers – der aktuell an einem Reprint des letzten Notizbuchs von Louis I. Kahn arbeitet – uns nun die Möglichkeit gegeben ist, dem Meister gleichsam über die Schulter zu schauen – auf die leicht vergilbten Blätter des genannten Skizzen- und Notizenbuchs, auf Zeichnungen, Diagramme, Randnotizen. Und zwar derart gut reproduziert, dass Filzstift und Kugelschreiber aber auch Schmuddelflecken auf Folgeseiten durchschlagen.

Doch über das Authentische hinaus, das hier hervorragend an das Original angenähert ist, erlaubt das Durchstudieren der knapp 70 Blätter den Nachvollzug eines heute undenkbaren Coups: Da wurde einer beauftragt, reiste nach Indien an den Ort des Bauauftrags (den Masterplan gab es bereits), wo er auf alles und viele Details schaute, sich (bildlich) Gedanken machte, Notizen schrieb und sich hier und da (aber eher wenig) korrigierte. Inwieweit diese Exkursion zum Bauplatz im Großen und im Detail Einfluss genommen hat auf die späteren Realisierungen? Chandigarh ist bis heute ein Mythos, den zu entlarven schon viele versucht haben. Ob der Reprint eines Tagebuchs/Notizbuchs eines ebenfalls noch nicht komplett erforschten LC da hilfreich ist? Immerhin hat die Autorin uns in einer knappen, aber teils mit (mir?) unbekannten Details angereicherten Einleitung die Vorgeschichte von Chandigarh dargestellt, man sollte sie lesen.

Aber dann: Wie das alles entziffern? Wie die Skizzen, die Notizen lesen? Historiker sind vielleicht vertraut mit der Entzifferung handschriftlicher Quellen, uns allen wird diese Dekodierungsarbeit im beiliegenden Buch abgenommen: In der „Day-by-day Synopsis“ wird das Handschriftliche schlicht überdruckt dargestellt (linke Buchseite) und rechts kommentiert. Damit öffnet die Autorin uns einen Weg ins Œuvre, der leichter nicht zu beschreiten ist!

Fehlt etwas? Vielleicht Fotos vom Fertiggestellten, die eine visuelle Verbindung zu Skizzen und Notizen hätten schaffen können. Die hier abgedruckten sw-Fotos (teils schon veröffentlicht) von Cousin Pierre­ zeigen dabei genau das Gegenteil: den Status quo ante, Menschen, Architektur, Arbeit, Armut und eine Kultur, auf die ein berühmter Architekt mit seiner Sicht der Dinge reagiert hat. Eine beeindruckende Arbeit aus Zürich, für die ich mir lediglich einen festeren Schuber gewünscht hätte! Be. K.

Maristella Casciato, Le Corbusier.
Album Punjab, 1951. Mit sw-Fotografien von Pierre Jeanneret. Eng./franz. Lars Müller Publishers, Zürich 2024, 208 S. (64 S. Faksimile mit Spiralbindung, 144 S. Kommentarband, beide in Kunsttoffhülle)75 €, ISBN 978-3-03778-706-9
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