Puzzleteilchen

Chandigarh ist eine Beinahe-Millionen-Stadt im Norden Indiens, Hauptstadt der Bundesstaaten Punjab und Haryana, eine Kunststadt aus den ersten Jahren der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans, die Schwester zu Brasilia, ein Kind Le Corbusiers. Denkt man und liegt schon schief. Denn natürlich ist das Paradebeispiel für einen sektionierten Städtebau das Kind mehrerer Eltern, beispielsweise des Cousins LC‘s, Pierre Jeanneret. Oder der beiden Briten im Team, Maxwell Fry und seiner Frau Jane Drew … eine explosive Mischung, das jedenfalls kann man dem vorliegenden Band in den Brief- und Postkartenauszügen, den Kommentaren und Interpretationen der Autoren nachlesen.

Der Schwerpunkt der Publikation liegt aber auf der systematischen fotografischen Abbildung Chandigarhs, die zwischen Dokumentation und Inszenierung osziliert. Viele Ansichten sind heute Legende, eine vom Meister wie überall in seinem Œuvre gezielt gesteuerte, manipulierte. Damals machte sich Ernst Schei­degger in den Norden Indiens auf, um den Fortschritt der Bauarbeiten sowie die Lebens-umstände der Bevölkerung zu dokumentieren.
Erstes Resultat war die Buchskizze „Chandigarh 1956“, welche die Ideen der architektonischen und gesellschaftlichen Moderne verbreiten wollte. Scheidegger konnte das Buch damals nicht realisieren, heute ist es faksimilierter Anhang. Davor werden viele weitere Fotos gezeigt, Kontext für das Skizzenbuch. Damit stehen in „Chandigarh 1956“ Fotografie und Architektur in enger, sich gegenseitig beinflussender Weise zusammen.

Scheideggers Fotografien, die in der heutigen Architekturfotografie kaum noch eine Perspektive hätten – weil sie meist den Menschen als Maßstab mitaufnehmen –, hätten jedoch unbedingt einer Gegenüberstellung von damals und heute bedurft! So erhält das Ganze den Wert einer auf hohem Niveau gehaltenen akademischen Betrachtung architekturhistorischer Dinge; „Chandigarh 1956“, ein Puzzleteilchen zur Werkdiskussion LC's.


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