Wir haben Anforderungen, die mit normalem Wohnungsbau nichts zu tun haben.

Wohnen über den Gleisen am Clarenbachplatz, Köln

Im Gespräch mit Anton Bausinger, Pierre Seidt und Matthias Dittmann, Köln

Im Kölner Stadtteil Braunsfeld entsteht das erste Wohnbauprojekt direkt über einem Bahngleis. Neben den Bauherren und dem Architekten interessierte sich auch die Öffentlichkeit sehr für das ungewöhnliche Projekt, durch das in Zukunft täglich Gefahrenguttransporte fahren werden. Doch das Interesse war nicht nur wegen dieser Tatsache hoch, wie uns die Bauherren, Anton Bausinger, Geschäftsführender Gesellschafter des Bauunternehmens Friedrich Wassermann, Pierre Seidt, Projektleiter der WvM Immobilien + Projektentwicklung GmbH und der Architekt, Matthias Dittmann, bei einem Besuch Vorort erzählten.

Wie kamen Sie auf das Projekt?

Anton Bausinger: Mich hatte schon länger gestört, dass es an einer wirklich schönen Ecke von Köln einen Platz gegeben hat, der mit Autos und Müllcontainern zugestellt war. Gut war nur der Markt, der zweimal in der Woche dort stattfand. Dann, vor gut 20 Jahren, kaufte ein Bauunternehmer das Grundstück, der allerdings mit seinen Plänen an dem denkmalgeschützten Bahnwärterhäuschen scheiterte, das auf dem Grundstück steht. Nachdem wir das Grundstück übernommen hatten, mussten auch wir merken, wie schwer es war, mit dieser Restfläche eines ehemaligen Bahnhofgeländes umzugehen. So kamen wir auf die Überlegung, die Fläche der parallel verlaufenden Bahngleise mit zu nutzen, was sich trotz Mehraufwand zu lohnen schien.

Was sagte die Öffentlichkeit zu Ihrem Vorschlag?

A. B.: Von der Öffentlichkeit kam sehr viel Gegenwind, was dazu führte, dass wir eine „kreative Werkstatt“ gründeten, bestehend aus verschiedenen Braunsfelder Gruppen, von denen insgesamt 40 Braunsfelder in der „kreativen Werkstatt“ mitwirkten. Während dieser Termine (ab Mai 2012) stieß auch Matthias Dittmann mit seinem Entwurf dazu.

Matthias Dittmann: Zu dem neuen Entwurf haben wir die Wünsche der Bürger aufgenommen und sind trotzdem zu einem wirtschaftlich rentablen Wohnprojekt gekommen. Mit unserem Entwurf wollten wir auch das nahe liegende Kirchengebäude der Clarenbach-Gemeinde, das heute in zweiter Reihe steht, in die benachbarte Wohnbebauung durch einen neuen Platz integrieren. Auch die so entstehende städtebauliche Qualität führte dazu, dass der Entwurf von der Öffentlichkeit akzeptiert wurde.

Wie verlief die Zusammenarbeit mit der „kreativen Werkstatt“?

M. D.: Die Zusammenarbeit hat sich stark entwickelt. Zuerst wollte man nur über die Außengestaltung sprechen – gar nicht über die Gebäude selbst, weil man sich nicht vorstellen konnte, dass diese auch anders aussehen könnten. Doch im Austausch kam immer mehr Verständnis auf und so war es eine kreative Phase, die gut funktioniert hat. Andererseits – hätte sie nicht funktioniert, wäre das Ganze anders ausgegangen, weil es auch Gruppen gab, die darauf warteten, dass es nicht funktioniert. Wir haben Glück gehabt, dass die meisten Menschen mitgedacht und sich nicht nur verweigert haben. Denn auch wir waren zwischenzeitlich an einem Punkt angelangt, an dem unsere Potentiale ausgeschöpft waren.

Nun zu dem Gleiskörper auf dem Grundstück …

A. B.: Das Grundstück konnten wir nur durch die Überbauung und teilweise Eintunnelung des Gleiskörpers wirtschaftlich nutzen. Wir nennen es das „160m-lange-Galeriegebäude“, weil die Eintunnelung des Gleiskörpers nur teilweise vorgenommen wurde, um die Luft beim Durchfahren der Züge baugerecht entweichen zu lassen.

Als wir die Baugenehmigung, das B-Plan-Verfahren, abgeschlossen hatten und der Bauantrag nach 14 Monaten und einer extrem gründlichen Prüfung genehmigt wurde, mussten wir lernen, mit der anhaltenden Kritik derjenigen umzugehen, die nicht wollten, dass gebaut wird und die sämtliche Gutachten hinterfragten, die wir im Vorfeld durchgeführt hatten. Die Bezirksregierung schaltete sich ein, überprüfte nochmals alles und entdeckte eine interpretierbare Formulierung im Gutachten, in der es um das „Anfassen“ des Gleiskörpers ging: Von der Häfen und Güterverkehr Köln AG (HGK) und der Bezirksregierung wurde uns damals zugesagt, dass wir das Gelände überbauen könnten, wenn wir den Gleiskörper nicht umbauen. Aus diesem Grund hatten wir ursprünglich vorgesehen, die Schwingungen im Gebäude zu dämpfen, d. h. oberhalb der Tiefgaragenwände Elastomerlager einzubauen, auf denen die oberen Geschosse aufgebaut sind. Doch dann kamen wir auf eine Konstruktionsweise, die bereits unter dem Kölner Dom bei einer U-Bahnlinie angewendet worden war: Dabei wurden die Erschütterungen unmittelbar unter dem Gleis aufgefangen, indem die Elastomerlager direkt in den Gleisunterbau eingesetzt wurden. Doch mit dieser Konstruktionsweise kamen wir in Konflikt mit der interpretierbaren Formulierung im Gutachten, was zu dem folgenden Verfahren führte. Im Nachhinein tat uns dieses Verfahren gut, denn wir haben alle Gutachten nochmal überarbeiten und teilweise ergänzen können. Die Elastomerlager sind heute direkt im Gleisunterbau integriert.

M. D.: Ein weiterer Vorteil der durchgeführten erschütterungsentkoppelten Konstruktion der Gleise – im Vergleich zum Erschütterungsentkoppeln des Hauses – liegt darin, dass man jetzt relativ konventionell weiterbauen kann.

Wo liegen die besonderen Anforderungen?

Pierre Seidt: Besonders sind die erhöhten Anforderungen an den Brandschutz: Wir mussten nachweisen, dass das Gebäude Temperaturen bis zu 2 000 °C  standhält – was den Anforderungen an einem Eisenbahntunnel entspricht. Auch für die statische Konstruktion gibt es erhöhte Anforderungen: Was, wenn ein Zug mit über 100 km/h durch den Galerietunnel fährt? Normalerweise fahren die Züge auf dem Gleis 25 km/h, trotzdem muss dieses Gebäude einem Anprall standhalten. Aus diesem Grund haben wir die bis zu einem Meter dicken Betonwände als Zerschellschicht an den Kopfbauten eingeplant.

Wie gingen Sie an das Thema Schallschutz heran?

A. B.: Der Schallgutachter hat für jede einzelne Etage die Schallschutzklasse festgelegt. Eine unserer Forderungen war, dass sich die Situation für keinen verschlechtern darf. Schallschutztechnisch kritisch sind im Tunnel natürlich die galerieartigen Öffnungen, die wir aber brauchen, um die Luft baugerecht entweichen zu lassen.

P. S.: Wir haben im Erdgeschoss, wo die Öffnungen des Tunnels sind, 1,20 m hohe Brüstungswände eingeplant, sodass der Schall von den Gleisen erstmal direkt wieder zurückgeworfen wird. Die Wände und Decken sind mit schallabsorbierendem Material verkleidet. In fast allen Situationen wird sich der Lärm der Züge – im Vergleich zum Ist-Stand – verringern.

Wie verlief die Genehmigungsphase?

P. S.: In dieser Phase ging es darum, die verschiedenen Richtlinien, die es im Tunnelbau und die es für Wohngebäude gibt, übereinander zu legen und baurechtlich exakt zu prüfen. Der Vermesser musste fünf Lagepläne anfertigen, weil wir einen sehr komplexen B-Plan vorgelegt hatten.

M. D.: Das lag daran, dass das, was gemeinsam in der „kreativen Werkstatt“ entwickelt worden war, auch genau so gebaut werden sollte, egal wer die Ausführung übernommen hätte.

A. B.: Der große Aufwand in der Genehmigungsphase lag darin, dass etwas komplett Neues überprüft werden musste: Wer ist dafür geeignet? Wer kann bestätigen, dass das, was berechnet wurde, richtig ist? Das war auch für die Bezirksregierung und für die Stadt Köln nicht einfach. Letztlich haben Fachleute vom Eisenbahnbundesamt die Überprüfung durchgeführt.

Gibt es schon Bewerber für die Wohnungen, die dort entstehen werden?

P.S.: Es gibt bereits 30 Bewerber – wir haben fast die Hälfte der 67 Wohnungen verkauft.

Gibt es bauliche Punkte, die für Sie besonders knifflig werden?

A.B.: Dem jetzigen Baudezernenten, Herrn Greitemann, ist dieses Projekt sehr willkommen, weil es zeigt, dass man auch in solchen Situationen immerhin 67 Wohnungen stellen kann. Dieses denkmalgeschützte Bahnwärterhäuschen an der Aachener Straße hat uns einerseits sehr viel Kopfschmerzen gemacht, aber wäre es damals nicht unter Denkmalschutz gestellt worden, dann würde dort heute eine relativ belanglose normale 0815 viergeschossige Kiste stehen und der Markt wäre längst über alle Berge verschwunden. Das Bahnwärterhäuschen hat einen guten Dienst geleistet, aber es ist auch teuer.

M.D.: Es ist auch identitätsstiftend und wird Braunsfeld mit seiner Durchfahrtsstraße prägnanter in Szene setzen. Es wird jetzt auch offiziell zum ersten Mal den Clarenbachplatz an dieser Stelle geben.

Jetzt beschäftigen Sie sich bereits 20 Jahre mit dem Projekt …

A.B.: … im Kopf ist es seit 20 Jahren – die intensive Arbeit daran dauert jetzt 10 Jahre an. In der Zeit hätte ich auch drei andere Projekte realisieren können …

Was sollte nicht unerwähnt bleiben?

M. D.: Wichtig ist, dass die Bahnüberbauung und Dichte erst über eine Tiefgarage und einen autofreien Platz möglich geworden ist. Auch das ist eine der wichtigen Entwicklungen im Projekt.

A. B.: Für einen solchen Fall gibt es noch keine Rechtsprechung. D. h. wir entwickeln etwas, viele Leute schauen zu und prüfen alle Details, aber es gibt erstmal kein Korsett. Anders als sonst, wo wir uns derart mit Vorschriften einengen, dass das Bauen immer schwieriger wird. Das war an dieser Stelle nicht so. Trotzdem sollte man nicht zögernd in ein solches Projekt einsteigen, denn es werden Einem so viele Fragen und Herausforderungen gestellt, von denen man am Anfang zum Glück nichts weiß …

P. S.: Ich glaube auch, dass das Projekt ein Denkanstoß ist. Die Fragen, auch zum Teil aus dem Ausland, nach dem Wie und Was liegen bereits vor. Aber wir müssen erstmal dieses Projekt zu Ende bringen und dann kann man nach weiterem Potential Ausschau halten.

Mit Anton Bausinger, Pierre Seidt und Matthias Dittmann unterhielt sich am 29. April 2019 DBZ Redakteurin Mariella Schlüter Vorort in Köln.

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