Nordisches Weiterdenken
Lundgaard & Tranberg, Kopenhagen

Den prestigeträchtigen „RIBA European Award“ des Royal Institute of British Architects dreimal hintereinander zu erringen, spricht so hoch im Norden für intelligentes architektonisches Anknüpfen und Weiterdenken - nicht für Sensationen am laufenden Band. 

Das Team um Lene Tranberg - nach dem über­raschenden Tod von Boje Lundgaard im Jahr 2004, sieben Partner und über 30 Mitarbeiter - baut regelmäßig die Highlights und Landmarken dieser in ihrer Überschaubarkeit und Naturnähe so dichten wie sympathischen Metropole, die dank ihrer konsequenten Stadt­planung von den Architekturtouristen gerade neu entdeckt wird. Ganz gleich, ob es sich um ein Fakultätsgebäude der renommierten Copenhagen Business School CBS handelt, mit einer dramatischen Treppen- und Versammlungshalle, die bis zum Himmel zu ­reichen scheint, um für die übrigen Räume scheinbar nichts übrig zu lassen (RIBA Award 2006). Oder um ein Studentenwohnheim, das man viel eher als eine Stadt für Studen­ten erlebt, mit Wartelisten so lang wie der Umfang des urbanen Platzes im Mittelpunkt der kreisrunden bewohnten Stadtmauer mit kühnen Auskragungen in den Innenhof (RIBA Award 2007). Oder um das neue Königliche Schauspielhaus, das in atemberaubender typologischer Konsequenz aus der Hafenstadt Kopenhagen, wenige Schritte vom Touristenrummel des pittoresken Nyhavn entfernt, eine märchenhafte Lagunenstadt auf Pfählen macht - dort, wo vor kurzem noch riesige Kreuz­fahrtschiffe festmachten (RIBA Award 2008). Dabei setzen die Architekten nicht auf eine schrille Architektursprache, die im Sinne des Bilbao-Effekts immer wieder neue modische Verkleidungen benötigt. Die Faszination liegt vielmehr darin, dass mit sehr leisen Tönen und den einfachen Mitteln einer geläuterten, skandinavischen Moderne zeitgemäße Lösungen gefunden werden, die auf der bisherigen architektonischen Entwicklung formal und funktional aufbauen. Und dennoch entstehen im Zuge dieser Experimente an der Kontinuität sehr anschauliche, unmittelbar überzeugende architektonische Lösun­gen.

Aus dem hinlänglich bekannten weit auskragenden, konstruktiv filigranen Vordach wird zum Beispiel eine gläserne, formal und funktional raffinierte Dachebene. Enttäuscht sind die designverwöhnten Kopenhagener Bürger dagegen vom neuen Opernhaus des Stararchitekten Henning Larsen, in dem sie viel eher die Maske eines Eishockeyspielers, einen Maulkorb oder einen gigantischen Kühl­ergrill erkennen als die Neuauflage eines gewaltigen Vordachs, das Jean Nouvel in Luzern schon viel geschickter inszenierte. So stehen sich in Kopenhagen mit der Oper und dem neuen Schauspielhaus zwei grundsätzlich verschiedene Architekturauffassungen gegenüber. Auf der einen Seite der in die Stadt einbezogenen Ostsee der abgehobene architektonische Formwille nicht zuletzt eines Bau­herrn, der dieses 335 Millionen Euro teure Haus dem dänischen Volk zum Geschenk gemacht hat, an der innenstadtseitigen Wasserkante der Charme einer Lösung, die zielgerichtet aus ihren Bedingungen gewachsen ist und noch mit ihrer Promenade, dem eigens gefertigten Ziegelstein und Gestühl oder den Künstlergarderoben und Nebenbereichen oberhalb des urbanen Foyers besticht. Nur so entsteht ein Gebäude, das nicht nur zu den schönsten Schauspielhäusern weltweit gehört, sondern das auch die Chance bietet, die 260 Jahre währende Nutzungsdauer des alten Spielorts, des historischen Dänischen Staatstheaters am Kongens Nytorv, noch zu überbieten. Wie nebenbei ist der Neubau, der wie kein anderer die Magie des Theaters verkörpert, zum beliebten Treffpunkt geworden, um die langen Sommernächte unmittelbar am Wasser zu erleben.

Die nächste Landmarke, das Einfallstor für den nördlichen Schiffsverkehr, entsteht nach einem großen und prominent besetzten Wett­bewerb gerade in der Transformation der Typologie des Hafenspeichers zum ökologischen und energieeffizienten Bürogebäude. Eine Aufgabe, mit der sich die Architekten zum Beispiel mit einigen Solarhäusern schon sehr lange auseinandergesetzt haben. Hinter einer Vielzahl verschiedener Öffnungen, die sich wie beim Schauspielhaus auch über das Dach ziehen, entstehen an begrünten Treppen­hallen, weit gespannte Atrien und Brücken sehr individuelle und spezifische Arbeitsplätze, mit allen modernen Möglichkeiten, kommunikative und innovative Prozesse räumlich zu optimieren. Mit großem formalen Nachdruck ziehen die Architekten der puren Glasfassade in diesem Fall die gezielte Lichtführung einer Ziegelfassade vor.


Intelligente Typologien

Ist es nicht geradezu das vornehmste architektonische Ziel einer Schule oder Universität, einen Anspruch zu dokumentieren, der das gute Gefühl einschließt, dazuzugehören, um in dieser auch architektonisch fokussierten Gemeinschaft mehr zu wagen und mehr zu erreichen als auf sich allein gestellt? Ist es nicht erste Aufgabe eines Studentenwohnheims, eben dieser eigenartigen Begrifflichkeit nicht zu folgen, sondern dem Zauberwort der Facebook-Generation, das da lautet: „socializing“? Ist nicht der offene Austausch zwischen zahlreichen Nationalitäten und in vielen Sprachen langfristig viel wichtiger als der Inhalt schnell veralteter Vorlesungen und Lehrbücher? Er ist doch der Nährboden, auf dem Studenten heute ein intensiveres Verhältnis zu Urbanität, gesellschaftlicher Komplexität und interkultureller Kompetenz entwickeln. Ganz im Sinne von Cees Nootebooms Eindruck eines spontanen Tanzes zahlreicher Passanten auf der Plaza Major von Salamanca, des für den reisenden Schriftsteller noch nach über 50 Jahren schönsten Platzes weltweit: „Irgendwie wußte ich genau: so mußte die Welt aussehen. Ich saß überwältigt am Fenster, wie verzehrt von dem Verlangen, mit­machen zu dürfen. Doch wenn die Welt so aussehen mußte, müßte es erst einmal Städte mit solchen Plätzen geben, und diese Plätze müßten genau im Herzen dieser Städte liegen“.[1]


Menschenfreundlicher Minimalismus

Die dänischen Architekten konnten zwar nicht in die städtebauliche Disposition der Stadterweiterung am Beginn des Ørestadt-Boulevard eingreifen, um sich dem von Nooteboom ­beschriebenem Traum zu nähern. Aber sie schenkten den 400 Bewohnern des siebengeschossigen Tietgen Dormitory dennoch genau diesen urbanen Fokus, obwohl danach nicht einmal gefragt war. Sie eliminierten so endgültig und mit Nachdruck die Vorgabe, in Studentenwohnheimen dürfe nur geschlafen und gearbeitet werden. Die Architekten schufen nicht weniger als einen grundsätzlichen Typus, einen überzeugenden Höhepunkt innerhalb einer langen Entwicklungsreihe, an dem jeder weitere Fortschritt zu messen sein wird. Nicht nur der Platz im Inneren der Studentenstadt, ihr ganzes Erdgeschoss ist mit zahlreichen Angeboten vom Fitness-Raum, über Küche, Arbeits-, Musik- und Versammlungsräumen bis zum Fahrradparken und zur Wäscherei ein Brennpunkt der Gemeinschaft. Folgerichtig werden auch die weit auskragen­den Dachterrassen auf den nach innen auskragenden Gemeinschaftsräumen und -küchen der Obergeschosse selten nur von Einzelpersonen genutzt. Die Materialdramaturgie wech­selt zwischen dem nackten Sichtbeton der Fertigteilsystematik, dem in den Fluren graphisch bedrucktem Sperrholz und dem edlen Glanz der äußeren Kupferpatina. Wendet man sich vom Brennpunkt der Anlage hinter geschlossener Tür und mit dem Blick in die weitere Umgebung ab, ist in den platzsparend und allein mit Sperrholz nobel eingerichteten Appartements im Schutz der 24 cm dicken Betonschotten aber ebenso komfortabel auch ungestörtes Arbeiten möglich. Der deutsche Investorenstandard spart das Studentenleben dagegen gerne auf ein Existenzminimum herunter, das nicht nur für ein freud­loses Dasein sorgt, sondern sogar die Zukunftsfähigkeit der gesamten Investition ins Wanken bringt. Wer auf architektonischen Mehrwert verzichten kann, muss damit leben, dass er Geld nicht spart, sondern vielmehr zum Fen­ster hinauswirft. Die Studentenappartements in Kopenhagen verfügen sogar über eine Tiefgarage.

Interessant ist aber nicht zuletzt der Entstehungsprozess dieses Projekts, das die ­Architekten in der ersten Idee aus den tradi­tionellen Rundbauten chinesischer Dörfer ­ableiteten. „Die Anonymität großer Wettbe­werbs­verfahren ist sehr demokratisch“, sagt Lene Tranberg, „aber sie verhindert, dass man schon in einem sehr frühen Stadium mit dem Bauherrn die Aufgabenstellung und die eigenen Vorstellungen dazu konzeptionell reflektieren kann.“ In diesem Fall führte der Bauherr mit fünf Büros eine offene Diskussion und die Lösung sprengte die Vorgaben der Jury ebenso wie die des Bebauungsplans.

Individualität und große Form

Lundgaard & Tranberg haben seit ihrer Gründung im Jahr 1984 schon die unterschiedlichsten Bauaufgaben gelöst: vom Wohnungs­bau über Industriebauten und Bürohäuser bis zum Städtebau, vom Einfamilienhaus über das Kraftwerk bis zum Museum, vom Jugendzentrum über Hochschulbauten bis zum Schauspielhaus. Ihre große Stärke bleibt bei jede Aufgabe neu zu denken - mit großer Sensibilität für den Ort, den kulturellen Hintergrund und das Handwerk. Überraschend sind darum auch ihre Harbour Isle Appartements auf der Halbinsel Havneholmen, die unmittelbar am Wasser schon vom Schauspielhaus aus zu sehen sind. Der fünf- bis acht­geschossige Wohnkom­plex ist geeignet, den Traum vom Einfamilien­haus in der Stadt end­gültig überflüssig zu machen, ein Meilenstein individuellen Wohnens in der Stadt.

Wohnungsbau in der Stadt schließt heute zwangsläufig die Frage danach ein, wie sich der Anspruch an ein individuelles Wohnen mit Einfamilienhausqualitäten und die ökologisch notwendige Verdichtung der Stadt und ihrer Infrastruktur harmonisch miteinander verbinden lassen. Lundgaard & Tranberg ist es gelungen, die weiße Moderne der zwanziger Jahre mit dem Individualismus des 21. Jahrhunderts zu verbinden. Die Architekten knüpfen dabei an traditionelle dänische Wohn­modelle an, die schon in den 40er Jahren im Zuge der Altstadtsanierung Wohnhochhäuser mit geneigtem Dach einsetzten. Damals waren es allerdings kleinformatige Satteldächer, die über gerasterten Fensterbändern Kleinteiligkeit beschworen. Heute verwirklichen Lundgaard & Tranberg diesen Anspruch unter weit gespannten Pultdächern mit einem vor Vielfalt fast flirrendem Fassadenbild. Immer wieder gelingen den Architekten neue Variationen in einer architektonischen Melodie, deren Töne allein die Fenster und die Freiräume bilden. Material- oder Farbwechsel spielen bei diesem Wohnungsbau, von den sehr filigranen Fensterprofilen aus Teakholz abgesehen, keine Rolle. Ein größerer Kontrast zu den in diesem Punkt sehr konventionellen neuen Wohnbauten auf der gegenüber­liegenden Uferseite ist kaum vorstellbar. Dort fällt allein der zu Wohnungen umgenutzte Silobau von MVRDV aus dem Rahmen der die Architektur heute viel zu sehr bestimmen­den Material- und Farbenvielfalt.

Naheliegende historische Anknüpfungspunkte für die Architektursprache der 236 „Harbour Isle Apartments“ auf dem ehemaligen Industriegelände finden sich zum einen in der Siedlung Bellavista (1935) von Arne Jacobsen, aber in ganz anderer Materialsprache auch in der Sea Ranch (1965) von Charles Moore. Dieser Vergleich schließt sogar die doppelte Hofbildung und die weitgespannten Pultdächer mit ein. In dieser städtebaulichen Anordnung entstehen in Kopenhagen ganz unterschiedlich gestimmte Situationen. Zum einen die Schauseite zum Wasser, mit den spekakulärsten, ganz oben zweigeschossigen Wohnungen. Zum anderen die klassische Straßenfront in der Nachbarschaft einer riesigen Shopping-Mall und dazwischen die stillen Oasen der von kleinen Kanälen durchzogenen Gartenhöfe. In den zum Ufer ansteigenden Gebäudeflügeln sind die über Treppen­häuser paarweise erschlossenen Wohnungen mit dem offenen Wohnbereich, der Küche und Essplatz einschließt, zweiseitig nach Süd­westen und Nordosten orientiert. Auf beiden Seiten liegen große, gut nutzbare Balkone. Die Individualräume sind an den Allraum ­des Wohnens einzeln angebunden. Die einge­setz­ten Schiebetüren ermöglichen es, den fließen­den Grundriss bis in den letzten Winkel der Wohnung zu öffnen. Der Zugang vom Treppenhaus erschließt den Wohnraum ohne Zwischenzone unmittelbar. Insgesamt strahlt jede dieser Wohnungen, unabhängig von ihrer Quadratmeterzahl die Großzügigkeit modernen individuellen Wohnens aus. Hier lässt sich das Einfamilienhaus vor der Stadt mit all seinen Verkehrsproblemen und Zeitverlusten schnell vergessen. In einer Stadt, die auf Architektur so großen Wert legt, ohnehin. Das Schauspielhaus, die Stadt der Studenten und die „Harbour Isle Apartments““gehören ohne Frage zu den besten aktuellen Bauten Europas. Klaus Dieter Weiß,Minden


[1] Cees Nooteboom: Nie gebaute Niederlande. „Denn zwischen Traum und Tat stehen Gesetze und praktische Bedenken“, Stuttgart 1999 (1980), S. 19

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