Der Anfang ist gemacht
Ein Kommerzbau aus dem Büro Libeskind tut Gutes

In der Schweiz gibt es Berge, wer wollte anderes behaupten. Berge, die allein wie zum Hinaufsteigen in die Landschaft gestellt sind. Um von dort oben aus enger Lage kommend in die Ferne zu schauen. Und weil die Lage in der kleinen Schweiz bekanntlich beengt ist – auch, weil der Urban Sprawl im Landschaftsansichtskartenland besonders schmerzhaft vor Augen steht – suchen sich die Schweizer mögliche Verdichtungspunkte. Der Luftraum über Autobahnen zum Beispiel, der auch in hiesigen Landen immer wieder im Gespräch ist, wenn es um die verbrauchsneutrale Erschließung neuer Baugebiete geht. So fährt man auf allen Schweizer Autobahnen regelmäßig unter Rastanlagen durch, die Verkehr wie Gegenverkehr in der Mitte obendrüber verproviantieren. Am westlichen Stadteingang von Bern gibt es jetzt ebenfalls eine Tunnelanlage, doch anders als bei dem Raststellenmodell, dient der Tunneldeckel höheren Zwecken möchte man sagen, in jedem Falle höherwertigerer Bebauung.

Teil der städtebaulichen Erweiterung der Gemeinde Brünnen soll der Autobahndeckel einen für die Neubausiedlung zentralen Park aufnehmen. Weil dieses städtebaulich interessante Gelenkstück zwischen den Bauplätzen als bloße Wiese sich als zu luxuriös weil nicht verkäuflich herausstellte, war das Projekt des Leiters des Stadtplanungsamts, Jürg Sulzer, schon beinahe wieder vom Tisch. Die Lösung endlich: Die Stadt Bern ergänzte die Grünanlage um die Integration eines jetzt so genannten „Westside“ Freizeit- und Einkaufszentrums. Mit der Migros Aare fand sie einen willigen Investor, schrieb einen Wettbewerb aus. In dem geladenen Wettbewerb konnte sich Ende 2000 das Büro Daniel Libeskind unter anderem gegen Devanthéry & Lamunière, Massimiliano Fuksas und Jean Nouvel durchsetzen.

Libeskinds Entwurf ist außen mit Alumi-nium und Robinie verkleidet, und stellt sich in seinem Arrangement dynamisch gesetzter Einzelbaukörper als echter Libeskind vor.
Glei­ches gilt für die Auflösung der Fassaden­oberfläche in Risse und Schraffuren; was dem Architekten schon den Vorwurf einbrachte, er kopiere hier die Fassade des Jüdischen Museums in Berlin, und stülpe damit den Ausdruck verzweifelten Leidens über die Banalität des Shoppens und der Unterhaltung. Dass der Architekt in Bern mancher Einschränkung und Verwässerung seiner Architektur ausgesetzt war, dürfte der Erfinder des expressiven Durchdringens gewohnt sein, wir werden manches der auch innenarchitektonisch relevanten Details im Holiday Inn beispielsweise vermissen. Der Autobahndeckel bietet an den Seiten und obendrauf eine Mall, ein Restaurant, 55 kleinere Läden, ein Kino sowie das Spaßbad „Bernaqua“.

Die Investoren rechnen mit 3,5 Mio. Besuchern jährlich, die zum größten Teil aus der weiteren Region anreisen sollen; per Auto oder, von Bern kommend, mit der Tram. Wir können jedenfalls ab sofort unter einem Libes­kind durchfahren, von Westen über die A1 kommend, Bern nördlich runden und schließlich, expressiv aufgeladen, den Weg ins Wallis wagen. Um von hier oben dann zurückzuschauen in eine Landschaft, in welcher die Autobahnen hoffentlich sehr bald mit mindestens solcherart Architektur gedeckelt werden. Be. K.

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