Bilder vom Wahnwitz

Als die zur Zeit dem Namen nach wohl bekanntesten Architekten gefragt wurden, ob sie nicht auch moralische Hemmungen hätten, in China zu bauen, verwiesen die beiden diese Frage in andere Foren, an andere Fraktionen. Sie seien, so das Fazit, schließlich nur die Architekten, die etwas planen und ausführen lassen. Für die Umstände, unter welchen ihre Bauten entstehen, wären andere verantwortlich.

Wahrscheinlich sind tatsächlich andere auch verantwortlich, doch wer in China baut, muss sich bewusst sein, dass das unter gänz­lich anderen Umständen geschieht als beispielsweise in Europa. Und wer ein wenig mehr von diesen Umständen wissen möchte, der sollte sich die hier vorgestellte Publikation aus dem Lars Müller Verlag kaufen. Die Fotoarbeit von Andreas Seibert, der über viele Jahre in China reiste und mehr tat, als nur auf den Auslöser seiner Kamera zu drücken – er erwarb sich das Vertrauen der Porträtierten –, spricht eine deutliche Sprache: China setzt auf das menschliche Material.

Die Rede ist von Wanderarbeitern, von Bauern, die ihr Land verlassen haben, um in den Städten Geld zu verdienen. Ein paar Millionen waren es zu Beginn, heute sollen es 250 Millionen sein, rund ein Viertel aller Arbeiter in China. 250 Millionen Arbeiter und ihre Familien … wie leben die während der Arbeit, wie sieht ihre Arbeit, wie ihre temporären Unterkünfte aus? Was essen sie, was machen sie in der knappen Zeit, in der sie nicht arbeiten, nicht an der Schaufel, mit welcher sie toxische Stäube in Schubkarren heben oder mit dem Vorschlaghammer auf ein Haus eindreschen. Was machen sie, wenn sie nicht auf einer der zigtausenden Mülldeponien unter einem braungrauen Himmel sind, auf welcher sie mit bloßen Händen nach verwertbaren Rohstoffen suchen?

Der Band zeigt jedoch nicht nur beeindruckende Bilder vom alltäglichen Überlebenskampf, er bietet auch textlich eine Menge an Stimmungen, Fakten und provozierenden Thesen. Damit wird Seiberts Foto-Porträt des sich radikal ändernden alten China zum lebendigen Blick hinter jede Kulisse und hoffentlich zum Ausgangspunkt für eine erneute, seriöse Debatte über die Zustände in einem Reich, das sich unseren Bedürfnissen anpassen soll und offenbar auch möchte in wahnwitzigem Tempo. Schuhe made in China? Vielleicht irgendwann einmal wieder.

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