Baustoff Landschaft
Das Büro Octagon Architekturkollektiv hat 2023 gemeinsam mit Studio Erde Landschaftsplanung den städtebaulich-freiraumplanerischen Wettbewerb für Jüchen-Süd gewonnen. Auslober war der Zweckverband LANDFOLGE Garzweiler. Seit 2024 verantworten beide Büros die Rahmenplanung für das neue Quartier.
Mit der Quartiersentwicklung Jüchen-Süd erfolgt die Neubesiedlung der Tagebaulandschaft Garzweiler. Damit endet die intensive Ausbeutung und Überformung durch Ressourcenabbau in der Region – ein neuer Abschnitt der anthropozänen Transformation steht an. Die Planung des Quartiers Jüchen-Süd übernimmt Verantwortung für die landschaftliche Ausbeutung der Vergangenheit und schöpft daraus innovative Impulse und eine eigenständige neue Identität. Es kann ein Modellquartier entstehen, das Antworten auf ein Miteinander von Mensch und Natur sucht, Synergien stiftet und dadurch beispielgebend für die Transformation von Tagebaulandschaften wird.
Jüchen-Süd wird als nachhaltiger Stadtteil im Rahmen der „Exzellenzregion Nachhaltiges Bauen“ entwickelt. Das Projekt ist Teil des „Innovation Valley“, welches die Region wirtschaftlich vernetzt und als Demonstrationsraum für zukunftsfähiges Wohnen und Arbeiten dient.
Dem Entwurf für das neue Stadtquartier Jüchen-Süd liegen fünf Thesen zugrunde:
1. Landscape First – territoriale Neuausrichtung durch Vegetationsstrukturen
2. forschende Reallabore – nicht nur Wohnen, sondern Start-up Cluster als Inkubatoren
3. Neujüchen – Kohabitation und neue Gemeinschaften
4. konsequent zirkulär – lokale Wertschöpfung und Kreisläufe als Quartiersidentität
5. offen, dynamisch – ein Raster für zukunftsgewandte und flexible Strukturen
Jüchen als Prozess
Zuerst die Landschaft – dieser Ansatz widerspricht den gängigen Abläufen in Planung und Bau, bei denen oft zuerst die Immobilie und dann ihr Kontext gedacht wird. Der Grundsatz von Octagon und Studio Erde „Landscape First“ kehrt diese Logik um. Zentrale Idee ist es, den Aufbau der produktiven und ökologischen Strukturen an den Anfang zu stellen und so die Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen. Auf dieser Grundlage entstehen nach und nach die Gebäude und Quartiere des Stadtteils. Für die Planenden bedeutet das ein radikales Umdenken und zugleich eine große Chance für einen Weg in eine ökologische und nachhaltige Baubranche.
Die Entwicklung des Stadtteils wird dabei in Phasen gedacht:
Phase 0: Forest first
Mit „Forest first“ beginnt die erste Entwicklungsphase des Quartiers bewusst mit dem Fokus auf Landschaft, Klimaresilienz und regionale Produktion. Die ersten Kernprojekte setzen dabei klare Schwerpunkte: Eine Baumschule bildet den Startpunkt für langfristige Gehölzstrukturen. In Landschaftslaboren zu Agroforst und Landwirtschaft wird mit innovativen Anbausystemen experimentiert. Die Macher-Halle eröffnet als zentrale Werkstatt für den Holzbau und Materialkreisläufe, gefolgt von der Markthalle als Ort der regionalen Vermarktung. Parallel starten die ersten Pflanzungen von Wald- und Agroforstflächen. Erste Erträge wie Obst, Gemüse und Hanf markieren den Beginn lokaler Wertschöpfung und eines Prozesses, der von Anfang an die Landschaft in den Mittelpunkt stellt.
Phase 1: Zukunftslandschaft wächst für die IGA
In der zweiten Phase entsteht das räumliche und infrastrukturelle Rückgrat des Quartiers mit Blick auf die Internationale Gartenausstellung 2037. Die Landschaft entwickelt sich entlang des Innovationsboulevards, der als zentrale Erschließung auch Energie-, Mobilitäts- und Versorgungsstrukturen bündelt.
Parallel wächst das erste der vier Teilquartiere: das IGA Quartier. Erste Wohnangebote entstehen, das Landschaftsbild verdichtet sich. Die Agroforst-Infrastruktur wird ausgebaut, erste Gebäude für Verarbeitung, Lagerung und Vermarktung entstehen. Jährliche Hanfernten sichern eine kontinuierliche Materialproduktion, unterstützt durch ein eigenes Hanfsilo.
Phase 2: Soziale und ökonomische Infrastruktur für Jüchen-Süd
Mit dem Aufbau sozialer und ökonomischer Infrastruktur entsteht ein lebendiger Alltag im Quartier. Kita, Schule und Spielplätze, Gewerbeflächen, Start-up-Hubs und ein neuer Mobility-Hub fördern lokales Arbeiten und nachhaltige Mobilität.
Parallel beginnt die erste Holzernte mit dem Sägewerk als zentralem Baustein. Hinzu kommt die gezielte Ansiedlung von Unternehmen aus der Baubranche, zum Beispiel einer Hanfdämmungsfirma, einer Tischlerei oder einem Hersteller von Holzbauteilen. Diese Betriebe bilden die Grundlage für erste lokale Wertschöpfungsketten für den Hochbau.
Phase 3: Weiterentwicklung des Gesamtquartiers mit dem Fokus Wohnraum
In der letzten Phase wächst das Quartier zu einem vielfältigen Wohnstandort heran. In allen vier Quartieren entstehen neue Wohngebäude, die direkt in die produktive Landschaft eingebettet sind. Mit dem Ausbau der Stoff- und Energiekreisläufe werden Energie, Baumaterialien und Lebensmittel zunehmend vor Ort produziert. Die Bewohner*innen sind aktiv in diese Prozesse eingebunden. So entsteht ein selbstlernendes Quartier, das Umweltbewusstsein und Lebensqualität miteinander verbindet.
Die phasenweise Entwicklung und die konsequente Nutzung lokaler Kreisläufe führen nicht nur zu deutlich kürzeren Transportwegen und einem wesentlich kleineren ökologischen Fußabdruck. Auch auf die Baukosten wirkt sich dieses Modell positiv aus: Jüchen-Süd wächst in weiten Teilen aus sich selbst heraus und wird dadurch unabhängiger von externen Märkten und globalen Preisentwicklungen. Wenn dieser Prozess gut gestaltet und klug umgesetzt wird, profitiert nicht nur das entstehende Quartier. Umgekehrt stärkt es auch die Region: Lokale Wertschöpfungsketten fördern Eigenständigkeit, binden Wissen, Handwerk und Gestaltungskraft an den Ort. So entsteht nicht nur ein funktionierender Baustoffkreislauf, sondern auch eine lebendige, identitätsstiftende Verbindung zwischen Landschaft, Material und Gemeinschaft.
Agroforstwirtschaft und Produktion
Auf insgesamt 57 Hektar entsteht ein agroforstwirtschaftliches Mosaik aus Wald, Acker und Weide. Für die lokale Produktion werden verschiedene Landschaftstypen vorgeschlagen: Sogenannte agrosilvopastorale Garten-Finger verweben sich mit der Siedlung. Hier wachsen Obst, Gemüse, Beerensträucher und Bäume in Kombination mit Tierhaltung. In den offenen Landschaftszonen ergänzen sich verschiedene Systeme: Alley Cropping, also der Anbau von Feldfrüchten in Streifen zwischen Baumreihen, sorgt für Ertrag und Bodenschutz zugleich. Silvopastur kombiniert Weidewirtschaft mit Bäumen und schafft so Schatten, Futter und Lebensräume in einem. Für die Produktion von Baumaterial besonders interessant sind die Landschaftstypen Holzproduktionswald und Hanfwald.
Holzproduktionswald
Der Holzproduktionswald bildet einen wesentlichen Bestandteil der agroforstlichen Gesamtstrategie und liefert wertvolle Rohstoffe für Bau und Energie. Auf großen, strukturierten Flächen werden verschiedene Baumarten in dichter Pflanzung kultiviert. Die Pflanzabstände variieren je nach Baumart zwischen 8 und 11 Metern. Diese dichte und systematische Anordnung ermöglicht eine planbare und nachhaltige Holznutzung. Die ausgewählten Baumarten zeigen ein solides Wachstum. Innerhalb von 10 Jahren erreichen sie bereits bis zu 6 m Höhe, nach 20 Jahren können sie geerntet werden. Ein Baum (z. B. Lärche, 15 m hoch, Ø 0,7 m) liefert etwa einen Kubikmeter verwertbares Bauholz. Ein Hektar Wald produziert also etwa 200 Kubikmeter Holz.
Hanfwald
Der Hanfwald übernimmt mehrere zentrale Funktionen: Die tief wurzelnde Cannabis sativa trägt zur Dekontamination und Regeneration des Bodens bei, bindet effektiv CO2 und ergänzt die forstwirtschaftliche Nutzung mit kurzer Umtriebszeit.
Hanf ist sehr wachstumsstark: Für die Faserproduktion benötigt er lediglich zwei bis drei Monate, für Samenproduktion drei bis vier Monate. Diese kurze Vegetationszeit ermöglicht mehrere Ernten pro Jahr und macht Hanf besonders effizient für großflächige Anwendungen.
Aus ca. 140 Kilogramm Hanfschäben entsteht ein Kubikmeter Dämmmaterial. Pro Hektar kann so der Rohstoff für 57 Kubikmeter Dämmmaterial angebaut werden.
Baumaterial
Die zentrale Frage lautet: Wie lassen sich lokal gewonnene Materialien so bereitstellen, dass sie dem Bauprozess zur richtigen Zeit in der nötigen Qualität und Quantität zur Verfügung stehen?
Gebaute Beispiele aus der Planungspraxis von Octagon bilden die Grundlage für belastbare Aussagen zum Ressourcenbedarf zwei wesentlicher Elemente: der Rohbaukonstruktion und der Dämmung. Aus den konkreten Projektdaten lassen sich Kennwerte zur benötigten Menge an Hanfdämmung und Bauholz pro Quadratmeter Geschossfläche ableiten.
Diese Kennzahlen ermöglichen Rückschlüsse auf typische Bauformen in Jüchen-Süd. Das Quartier setzt sich aus Typenbauten vom Einfamilienhaus bis zum Mobility-Hub zusammen. Den größten Anteil (ca. 90 %) bilden Mehrfamilienhäuser und Einfamilienhäuser. Für diese Typologien liegen vergleichbare Projekte bereits vor. Aus ihnen lässt sich ableiten, wie viele Pflanzen in welchem Zeitraum benötigt werden, um die Baumaterialien lokal und regenerativ zu gewinnen.
Aufgrund der verwendeten Materialmenge des von Octagon Architekturkollektiv realisierten Geschosswohnungsbaus „Haus im Fluss“ können Rückschlüsse auf den Materialbedarf des Typs „Mehrfamilienhaus“ für das Quartier Jüchen-Süd gezogen werden. Das Mehrfamilienhaus gibt es in Jüchen in verschiedenen Größen. Es ist ein drei- bis fünfgeschossiger Bau mit öffentlichem Erdgeschoss und gemeinschaftlicher Dachterrasse. Je nach Größe und Lage sind im Erdgeschoss zusätzlich Flächen für Kleingewerbe vorgesehen.
Das Bauvorhaben „Haus im Fluss“ ist ein gemeinschaftliches Wohnprojekt im Süden von Leipzig. Der Neubau mit vier Geschossen und Keller hat eine BGF von 1 043 m2 und ist hauptsächlich in gedämmter Holzrahmen-Bauweise ausgeführt, wobei Treppenhaus, Brandwand und Keller aus Stahlbeton errichtet wurden. Für die Rohbaukonstruktion wurden 182 m3 Bauholz und 150 m3 Dämmung verbaut. Die effiziente Gebäudehülle im KFW-40 Standard erlaubt die Nutzung einer Luft-Wasser-Wärmepumpe zur Erzeugung der notwendigen Wärmeenergie. Besonderheit des Projektes ist das Clusterwohnkonzept: Alle Bewohner*innen haben eigene Schlafräume. Bäder sowie zahlreiche Gemeinschaftsflächen werden gemeinsam genutzt. Herzstück des Hauses ist ein großes Wohnzimmer mit Küche im Erdgeschoss, welches als Treffpunkt für die Bewohner*innen sowie für nachbarschaftliche Veranstaltungen dient.
Das „Haus an der Spinnerei“ ist ein Einfamilienhaus auf einem Teilgrundstück des ehemaligen Plagwitzer Bahnhof in Leipzig. Der Neubau hat zwei Geschosse und eine BGF von 248 m2. Auf den Verbau mit „grauer“ Energie aufgeladener Baustoffe wurde verzichtet. Die Holz-Rahmenbau-Konstruktion wurde mit Baustroh gedämmt und schafft Niedrigenergie-Standard. Es wurden 69 m3 Bauholz und 97 m3 Dämmung verbaut. Lehmbaustoffe im Innenraum sorgen für Behaglichkeit und Schallschutz. Die Wärmeenergie wird mittels Ofen und Solarthermie direkt am Haus erzeugt und gespeichert. Regenwasser wird auf dem Grundstück gesammelt und in Haus und Garten nachgenutzt. Mittels Photovoltaik wird der Strombedarf gedeckt.
Aus den Daten über das von Octagon Architekturkollektiv realisierte Einfamilienhaus „Haus an der Spinnerei“ wird der Bedarf für den Typ „Einfamilienhaus“ in Jüchen-Süd berechnet. Es hat eine vergleichbare Größe und beherbergt ebenfalls eine Wohneinheit.
Die 16 Hektar reiner Holzproduktionswald in Jüchen-Süd liefern innerhalb eines 20-Jahres-Zyklus rund 3 200 Kubikmeter Bauholz. Das entspricht dem Materialbedarf für etwa 30 Mehrfamilienhäuser oder rund 58 Einfamilienhäuser. Hanf hingegen verfügt über eine deutlich kürzere Vegetationszeit und kann jährlich geerntet werden. Genug, um jedes Jahr die Dämmstoffe für ein bis zwei Gebäude bereitzustellen.
Auf Grundlage der vorliegenden Daten und der bekannten Wachstumszyklen von Holz und Hanf lässt sich abschätzen, in welchem Zeitraum sich das Quartier entwickeln kann. Gebaut wird in dem Tempo, in dem die natürlichen Materialien zur Verfügung stehen. Der Entstehungsprozess folgt damit dem Rhythmus der Landschaft und setzt auf ein organisches, nachhaltiges Wachstum.
Die Rahmenplanung Jüchen-Süd zeigt exemplarisch, wie durch den Einsatz lokal gewonnener Materialien ökologische, ökonomische und gestalterische Potenziale aktiviert werden können. Wenn Bauholz und Dämmstoffe direkt vor Ort wachsen und verarbeitet werden, entstehen nicht nur kurze Wege, sondern auch neue regionale Wertschöpfung und handwerkliche Expertise. Dieses Vorgehen kann Perspektiven für das Bauen eröffnen, die stärker an Verfügbarkeit, Herkunft und Qualität der eingesetzten Materialien orientiert sind. So leistet das Quartier einen konkreten Beitrag zur Diskussion um nachhaltiges Bauen und zeigt, wie Planen und Produzieren enger zusammenrücken können.