Anforderung an eine zeitgemäße Gebäudehülle
Was ist, was war, was kommt? Um das Potenzial der Fassade zu entwickeln reicht es nicht aus, bestehende Anforderungen und technische Lösungen als Maß der Dinge zu begreifen. Neue Aufgaben benötigen neue Materialien und den Mut, in Kreisläufen zu denken.
Eine zentrale Anforderung an eine zeitgemäße Gebäudehülle ist es, eine dauerhafte und verträgliche Lösung für die gestellte Bauaufgabe zu finden. Der Betrieb des Gebäudes muss über einen langen Zeitraum ermöglicht werden – bei gutem Komfort für die Nutzer. Bereits zu Beginn des Lebenszyklus müssen die Beteiligten Überlegungen zur Weiter- und Wiederverwendung der Bauteilteile und Materialien anstellen. Die Kreislauffassade und im Idealfall die unendliche Nutzung der Komponenten ist eines der definierten Ziele.
Dynamische Hülle statt starrer Fassade
Um eine zeitgemäße Gebäudehülle mit allen resultierenden Konsequenzen zu entwickeln, müssen die performativen Eigenschaften dieser Gebäudehülle deutliche Verbesserungen erreichen – auch und gerade in der konventionellen Fassadentechnik. Im Idealfall können die Anforderungen an eine dynamische Gebäudehülle [1] erfüllt werden: Klimaregulierung durch atmungsaktive Materialien, Lastabtragung durch optimierte, schlanke Tragwerke, Komfort durch aktive Dämmung und Lüftung, integrierte Technik für den Nutzer, Leistungsfähigkeit für Belichtung und Verschattung bei adaptiver Transparenz, Entwurfsgerechte Erscheinung [2].
Wichtig bei dieser Betrachtung ist es, die dynamische Gebäudehülle nicht als technologischen Selbstzweck zu verfolgen, sondern als Chance zu verstehen, die stagnierende Weiterentwicklung der Gebäudehülle auf das nächste Level zu bringen. Nach wie vor ist die „Polyvalente Wand“ von Mike Davies in ihrer komplexen und dennoch schlanken Ausführung als Produkt unerreicht und vereint aber alle Wünsche an eine Gebäudehaut in einer konkreten Formulierung [3] [4].
Die Haut des Menschen ist das Ergebnis einer Evolution über Millionen Jahre. Die heutige Fassadentechnik dagegen geht auf die Entwicklung der Vorhangfassade in den 1920er-Jahren zurück und befindet sich zeitlich gesehen somit noch in der frühen Embryonal-Phase der Fassadenevolution. Vielleicht gibt es die perfekte Fassade, auf die alle Entwicklungen hinauslaufen, daher erst in ein paar Millionen Jahren.
Tatsache ist, dass die Anforderungen an die Gebäudehülle immer größer werden und sie deshalb immer mehr Funktionen übernehmen muss und wird. Auch wenn die Bautiefe der Fassade mit zunehmender Anzahl von Funktionen eher dicker als dünner wird, weg von der „Haut“, hin zu einer „hochtechnisierten Außenwand“.
Die Erschaffung einer echten Kreislaufwirtschaft ist ein gemeinsames Ziel bei der Weiterentwicklung der Fassadentechnik. In aktuellen Projekten steht die Entwicklung allerdings noch am Anfang und ist längst noch kein Planungsalltag! Trotzdem erweitert sich die Liste der Anforderungen an die Gebäudehülle um weitere Themen und der Fachplaner muss auch hier zum Spezialisten werden.
Materialmodelle auf dem Prüfstand
Umweltpositive und nachwachsende Rohstoffe sollten ab sofort immer das Mittel der Wahl sein. So, wie wir uns alle gesund ernähren sollten, sollte auch unsere gebaute Umwelt aus verträglichen Materialien bestehen. Hierbei sind nachwachsende Ressourcen ein weiteres Thema. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Veränderungen müssen neue und neuartige Materialien ganzheitlich gedacht werden. Es geht in der Planung immer auch um baurechtliche und statische Aspekte, die es zu betrachten und zu bewerten gilt. Dazu müssen planerische und baurechtliche Grundlagen sowie neue Materialmodelle und die entsprechenden Bemessungskonzepte erarbeitet werden, um beispielsweise nachwachsende Rohstoffe sicher in die Gebäudehülle zu integrieren und ihnen die erforderlichen Eigenschaften zuweisen zu können. Das Bauen mit alternativen Baustoffen soll schon in der nahen Zukunft nicht mehr nur eine Vision bzw. ein Forschungsansatz sein, sondern die (Bau-)Praxis.
Neben der Herausforderung, neuartige und innovative Materialien zu etablieren, sollen künftig auch vermehrt Materialien in neuen Fassaden zum Einsatz kommen, die bereits zuvor schon einmal verwendet wurden. Planende müssen somit künftig auch verstärkt ein Augenmerk auf die Wieder- und Weiternutzung bereits eingesetzter sowie ausgebauter Bauteilkomponenten legen.
Auch im Bereich der Baugläser ist eine Entwicklung in Richtung Wiederverwendung erkennbar [5]. Erste Projekte und Studien zeigen, dass ausgebaute Glaselemente, unabhängig davon, ob es sich um Isoliergläser oder Monogläser handelt, erneut einsetzbar sind – etwa nach einer qualitätsgesicherten Bewertung ihrer strukturellen und mechanischen Eigenschaften. Dies eröffnet mittelfristig neue Möglichkeiten für die ressourcenschonende Verwendung von Glas im Fassadenbau.
Im konstruktiven Glasbau gilt es, weitere und neue Erkenntnisse zu gewinnen und diese der Branche auch mitzuteilen. Derzeit werden beispielsweise rückgebaute Gläser genau inspiziert und begutachtet. Als Möglichkeit eines Kreislaufansatzes können Isoliergläser mit entsprechendem Equipment aufgetrennt und in die Einzelteile zerlegt werden. Weitere Untersuchungen zum Trocknungsmittel, zum Füllgrad des Scheibenzwischenraums oder Untersuchungen zur mechanischen Festigkeit finden statt [5]. Projektspezifisch muss festgestellt werden, welche Materialeigenschaften die bereits eingebauten Bauteile besitzen. Für eine zuverlässige Charakterisierung der Materialeigenschaften der rückgebauten Gläser kann auf zerstörungsfreie als auch auf zerstörende Prüfungen zurückgegriffen werden.
Rückbau mit Sytem
Diese Kreisläufe und Prozesse sind bei den Aluminium-Bauprodukten bereits weit entwickelt und etabliert. Die großen Systemhersteller haben ihre Aluminiumproduktion und -verarbeitung in Teilen auf Recyclingmaterialien umgestellt.
Auch bei anderen Fassadenmaterialien – wie Naturstein, Holz oder bestimmten Verbundwerkstoffen – besteht technisches Potenzial zur Weiternutzung oder Umnutzung. Hierzu bedarf es angepasster Rückbaukonzepte, geeigneter Lager- und Aufbereitungstechnologien sowie klarer Richtlinien zur Einordnung der wiedergewonnenen Bauteile in bestehende Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen.
Bei allen Baustoffen aus einer Zweitanwendung stellen sich bis zur Verwendung weitere Fragen: Welche Materialeigenschaften besitzen die bereits verbauten Produkte nach der ersten Lebensphase noch? Welche bauaufsichtlichen Regelungen liegen den Produkten zugrunde und wer übernimmt die Haftung und Gewährleistung für die wiederverwendeten Produkte in der neuen Anwendung?
Materialpässe gegen Materialengpässe
Der Wunsch, Kreislaufmaterialien in den Projekten einzusetzen, ist vorhanden. Allerdings fehlt es derzeit noch an konkreten Erfahrungen mit Kreislauffassaden in der Praxis. Manchmal verhindert allein die Größe der Projekte diesen Ansatz, denn es ist nicht ganz unproblematisch für mehrere 1 000 oder 10 000 m² neu zu errichtender Fassaden gebrauchstaugliche gebrauchte Materialien in der geforderten oder ausgeschriebenen Qualität und in einem planbaren Zeitraum zu beschaffen. Somit scheitert der Ansatz momentan auch noch an der Verfügbarkeit passender Baustoffe sowie an der erforderlichen Logistik in einem engen Terminplan.
Um die Wiederverwendung von Bauteilen und Materialien im Allgemeinen zu fördern, dürfen Planende und Ausführende sich künftig nicht mehr mit Unsicherheiten zur Materialherkunft oder Genehmigungsfähigkeit belasten. Standardisierte Verfahren, digitale Materialpässe und klare Nachweiskriterien können die Attraktivität gebrauchter Baustoffe erheblich steigern.
Regulatorische Hürden
Der konkrete Schritt von der Produktidee zu einem echten Bauprodukt ist bei der Weiterentwicklung der Gebäudehülle oftmals der kritische Punkt in der Realisierung neuer Ansätze. Um neuartige Produkte, Materialien und Bauteile als geregelte Bauprodukt bzw. Bauarten im Sinne der geltenden technischen Baubestimmungen einsetzen zu können, muss ein aufwändiges Verfahren durchlaufen werden, dessen Zeitbedarf und die damit verbundenen Kosten oftmals nicht konkretisiert und planbar sind.
Bei aktuell laufenden Zulassungsverfahren ist zu beobachten, dass selbst neue Kombinationen aus bereits bekannten Materialien und Baukomponenten nur schwerlich durchzusetzen sind. Somit sind die Etablierung und Verbreitung von neuartigen, verbesserten Bauprodukten und deren Einbindung in die Gebäudehülle nur sehr mühsam zu realisieren. Hinzu kommen hohe Investitionskosten und ein dadurch hohes unternehmerisches Risiko bei der Durchführung von Zulassungsverfahren.
Trotz aller Hürden und Schwierigkeiten im Prozess ist es wichtig, die aktuellen Entwicklungen nicht aus dem Auge zu verlieren und neben dem täglichen Planungsgeschäft auch visionäre Ansätze zu verfolgen.
Visionäres erforschen
Eine bereits seit vielen Jahren erforschte, allerdings im Fassadenbau nur sehr punktuell eingesetzte Technik, ist das additive Herstellen von Bauteilen (umgangssprachlich das 3D-Drucken). Besonders im Zusammenhang mit Freiform-Fassaden und komplexen Geometrien gibt es bereits zahlreiche Ansätze von Knotenverbindungen für die Übersetzung der freien Formen in baubare Fassadenstrukturen. Echte Anwendungsfälle bleiben jedoch selten, weshalb entsprechende Techniken noch immer eher im Prototypenbau zum Einsatz kommen.
Als Konsequenz aus den sich ändernden Anforderungen muss eine heutige Gebäudehülle auch als „Stadtraumpfleger“ Lösungsansätze für Themen wie Temperatur, Lärm, Staub, Blendung, usw. liefern. Diese neuen Themen bringen wiederum weitere neue und komplexe Fragen, die es im Team rund um die planenden Personen zu beantworten gilt. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Fassadenbegrünung, welche die Branche derzeit beschäftigt und eine große Nachfrage erzeugt.
Für eine bautechnisch einwandfreie Umsetzung sind umfassende statische Berechnungen notwendig, insbesondere im Hinblick auf die zusätzlich wirkenden und aktuell noch wenig erforschten Windlasten (bei wachsenden und sich wandelnden Geometrien des Bewuchses, bzw. der Bepflanzung) auf die tragenden Fassadenelemente und deren weiteren Befestigungen. Darüber hinaus muss das Begrünungssystem nicht nur gestalterischen und ökologischen Anforderungen genügen, sondern auch hinsichtlich seiner bauphysikalischen Wirkung und den geltenden brandschutztechnischen Anforderungen nach Muster- bzw. Landesbauordnung sorgfältig analysiert werden.
Insbesondere die Funktionen als sommerlicher Wärmeschutz und die potenzielle Ergänzung der Wärmedämmung, etwa von Kaltfassaden, stehen dabei im Fokus. Um diese Aspekte belastbar bewerten zu können, sind gezielte Tests und fachplanerische Bewertungen erforderlich.
Ausblick
Die beschriebenen Entwicklungen – die neuen Themen und die zunehmende Komplexität der Planung und Umsetzung von Bauprojekten – verdeutlichen, wie sehr sich die Rolle der Fassadenplanung ändert. Die Anforderungen an die Gebäudehülle werden vielfältiger und mit ihnen auch die Ansprüche an das Wissen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Ingenieurteams.
In der Planungsrealität zeigen sich bei der Umsetzung neuer Konzepte oftmals Diskrepanzen zwischen den guten Absichten aus der Entwurfs-phase und der teilweise überregulierten Baurealität. Gute Ansätze sind zu oft mit einer realen Baupraxis konfrontiert, die von Vorschriften getrieben und mit Kompromissen behaftet ist. Dazu gehören auch die Unsicherheit der Beteiligten Planer, der allgemeine Kostendruck und die zu engen Terminpläne.
Zu oft wird aus Zeit- und Kostengründen keine vollständige Planung erstellt und viele der späteren Entscheidungen dann als Kompromisslösungen im Prozess entwickelt. Nicht, dass Kompromisse grundsätzlich schlecht sind. Aber eine gute, klare und offene Kommunikation, die frühzeitig zwischen den Projektbeteiligten geführt wird, könnte das ein oder andere Problem im Sinne der gemeinsamen Bauaufgabe lösen. Wir müssen daran arbeiten, dass die richtigen Fragen zur richtigen Zeit gestellt werden.
Tatsache ist aber auch, dass nach wie vor die einzelnen Gewerke in der Bautätigkeit streng voneinander getrennt bleiben. Dies hat seinen Ursprung zum einen in der zunehmend wichtigen rechtlichen Trennung der individuellen Leistungen am Bau, zum anderen in der traditionell eher konservativen Einstellung der am Bau Beteiligten.
Gemeinsames Ziel muss es sein, die bislang eher experimentelle Praxis bei der Materialentwicklung, dem Technologietransfer und bei den Bemühungen zur kreislaugerechten Fassade in eine normativ anerkannte und baurechtlich zugelassene Struktur zu überführen. Nur mit einem angepassten Planungsprozess können die zunehmenden Anforderungen an eine moderne Gebäudehülle erfüllt werden.
Quellen
1. Klein, T., Integral Façade Construction - Towards a new product architecture for curtain walls. Architecture and the Built Environment, ed. A+BE. 2013: abe.tudelft.de.
2. Strauß, H., Visions for a Paradigm Shift - Based on AM for Facade Application. in Powerskin Conference, RWTH Aachen, 2022.
3. Knaack, U., et al., Facades. Principles of Construction, Basel: Birkhäuser Verlag AG, 2007.
4. Strauß, H., AM Envelope - The potential of Additive Manufacturing for facade construction. Architecture and the Built Environment, ed. A+BE. 2013: abe.tudelft.de.
5. Baitinger, M., Elstner, M., et al., Handlungsempfehlung für eine nachhaltige Verwendung von Glasprodukten aus dem Bestand, Fachverband Konstruktiver Glasbau e.V. und Bundesverband-Flachglas (Hg.), 2025.