Der ganze Botta

„Mario Botta. Architetture 1960-2010“ im italienischen Rovereto noch bis 23. Januar 2011. Von Werner Jacob, Bad Krotzingen

Der Stein des Anstoßes lag auf dem Dach. Unzählige waren es einst, auf ungezählten Dächern. Getragen von Mauern aus demselben Baustoff: gebrochenem Gneis, mörtellos geschichtet wie die Trockensteinmauern, die begrenzen und stützen. Solchermaßen dem Berg abgerungene Terrassen gaben dem Land sein Gesicht; die steinernen Hütten für Vorrat und Vieh, die Menschen- und die Gotteshäuser prägen den archigenetischen Fingerabdruck seiner Tessiner Heimat: Mario Botta, der Baumeister des Steins, hat sich diese archaische Technik und ihre eigentümliche Anmutung anverwandelt und weiterentwickelt zu einem personalen Stil.

In einer Retrospektive ist im italienischen Rovereto der ganze „Mario Botta. Architetture 1960-2010“ zu erleben. Neben seinem in Zeichnungen, Modellen, Fotografien und Designkreationen dokumentierten Œuvre sowie illustrativer Dokumentation ihn prägender Gestalten und Geschehnisse begegnet man dem 1943 Geborenen in einem seiner jüngeren und – in diesem Kontext weniger aussagekräftigen – Werke, dem „Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto (MART)“. 2002 vollendet, zeigt es seinen Baumeister gleichsam nur in Innenansicht: Wand an Wand eingepasst in ein Ensemble historischer Palazzi, fehlt diesem Gebäude eben das, was den Botta ausmacht, die Fassade. Das Entrée sieht und erreicht man durch eine lange Gasse über eine kreisförmige, von einem gläsern-stählernen Strebewerk überdachte Piazza.  Die kubischen Museumsmassen lagern hinter deren runden Innenfassade, welche konturiert ist von ringsumlaufenden querrechteckigen und stehend schlitzförmigen Lichteinlässen – die wesentliche Formenklatur seines Bauens: Das Runde muss ins Eckige.

Bereits der Achtzehnjährige baut, ein Pfarrhaus in seinem Heimatdorf; erkennbar noch inspiriert vom historischen Tessiner Steinbau; winzige quadratische Lichtluken in Doppellinie seriell übereinandergestapelt, im massiven Steinmauerwerk perspektivisch verengt von außen nach innen, paraphrasieren sie überkommenes Vokabular – ein niedrigerer Annex an dem schmalhohen Haupthaus indes konterkariert in kühnem Ausfallschritt die Erdenschwere, weitgeöffnet liegende Fenster- und Torformate erzählen von ungestümer Ungeduld des Baumeisters in spe: aus der Historie schöpfen, sie aber fortentwickeln. Bauzeichnerlehre, Architekturstudium bei Carlo Scarpa in Venedig, Mitarbeit in den Büros von Le Corbusier und Louis Kahn vermitteln technisches wie künstlerisches Rüstzeug dazu. Seit 1969 im eigenen Luganer Büro, amalgamiert er Gesehenes, Gelerntes, neu Gedachtes zu eigener Handschrift. Und reüssiert mit Einfamilienhäusern und Villen in der Tessiner Landschaft

Hier verputzt, dort in Sichtbauweise, verwendet er Stein und Beton, kombiniert Viereck und Kreis, Würfel, Zylinder und Prisma, appliziert Stahl und Glas in aufgebrochenes Mauerwerk, arrangiert die Baukörper mal axial-, mal asymmetrisch, gelegentlich stülpen sich turmartige Elemente aus hermetischer Front, oder schneiden diagonale Wandscheiben dynamisch durch einen kompakten Korpus – Variationen ohne Ende. Wundersamerweise tappt Mario Botta weder in die Beliebigkeitsfalle noch erliegt er der Stereotypie; wenngleich seine Gebäude ausnahmslos Individuen sind, ist ihnen doch unübersehbar die bottasche Familienzugehörigkeit eingeschrieben – ihn deshalb einen Signature-Architekten zu nennen, der seinen uniformalen Stempel jedem Bauplatz aufdrückte, grenzte an Ehrverletzung: Sind doch den meisten seiner Bauten die akribische Analyse des Standorts und daraus folgend konzise Komposition en gros et en détail anzusehen. Wiewohl ab und an ein gewisses Fremdeln zwischen Bestand und Botta-Bau nicht ausbleibt, wie beim Bankgebäude am Basler Aeschenplatz, dessen Raumgefüge vom selbstverliebten Rund des Baus einen Drall zuviel bekommt.

Beinahe zwanzig Jahre lang brilliert Mario Botta als Baumeister der kleinen Form; bereits seit den Siebzigern sind seine Case unifamiliari im Tessin Sehnsuchtsziel von Architektouristen aus aller Welt. Ein erster Ausflug in größere Strukturen gerät 1982 noch etwas ungelenk; gleichwohl wird die für Botta atypische, zwischen Post- und Neuer Moderne irrlichternde Staatsbank im schweizerischen Freiburg Initialzündung zu anfangs helvetischem, dann internationalem Erfolg. Größere Wohnanlagen, Kultur­komplexe wie die Bibliothek im französischen Villeurbanne, vor allem aber 1988 die Gotthardbank in Lugano bringen den Durchbruch, ökonomisch wie architektonisch; Botta ist bei sich und im Fokus potenter Bauherren angekommen. Durfte er bis dato meist kleinere Solitäre in architektonisch kaum definierte Landschaftsräume drapieren, konnte er sich nun beweisen in hochverdichteten städtischen Umfeldern unterschied­lichsten Charakters.

Und Botta beweist; baut weltweit, ist mit mittlerweile um 350 Bauten und Projekten erfolgreichster Architekt des Landes, 2003 wird der fortan im Sternenhimmel der Architektur Residierende gar „Botschafter der Schweizer Kultur.“ Entwirft Banken, Tempel, Museen, Theater, Bibliotheken, Sport- und Freizeitresorts – damit nicht genug, Mario Botta, für den „der Mensch vor der Architektur kommt“, betätigt sich auch als Messegestalter, Designer und, vollends künstlerisch, als Bühnenbildner. Mit dieser Palette bespielt die Schau in beiden großen Sälen die gesamte erste Etage des MART. Den größten Raum im thematisch-chronologisch organisierten Parcours nehmen die Architekturen ein. Opulent inszeniert. Großformatige schwarz-weiß Fotos der 90 ausgewählten Werke, Grundrisse und Schnitte sowie Entwurfszeichnungen – Botta ist virtuoser Hand“werker“ – werden in die dritte Dimension gebeamt von vorzüglich gearbeiteten Holzmodellen, welche, mal im Schnitt, mal in toto, didaktische Augenweide sind.

Das Œuvre auf diese Weise visualisiert, Zeit und Raum komprimiert, kommt der Betrachter den über Länder und Kontinente verstreuten Bauwerken handgreiflich nahe. Anschaulich wird die Entwicklung des Werkes von den eher intimen, gleichwohl prototypischen Tessiner Wohngebäuden hin zu den Großbauten. Wie der wegweisenden Luganer Gotthardbank, deren Masse, aufgelöst in vier miteinander verbundene Türme an eine Fortifikation denken ließe. Doch plaziert in der Bauflucht des bestehenden Blockrands, die Fassaden der kapitalen „Wehrtürme“ über die gesamte Mittelsenkrechte zur Lichtschlucht aufgebrochen und konturiert vom steingebundenen „Sägezahnmotiv“ sowie diesem korrespondierenden horizontalen, mit den Steinlagen farbwechselnden Zebrastreifen – alle diese hier vorgeführten bottaschen Markenzeichen nehmen dem Koloss die Wucht.

Ebenso die Organisation großer Volumina. Regelmäßig segmentiert sie Botta in funktionale wie formale Partitionen, schneidet geometrische Figuren auf, verschiebt sie auf der Szene, um sie parataktisch zu verbinden, und zwischen, neben, über ihnen weiter aufgelöste Figurinen einzuklinken. Illustrativ das Verwaltungsgebäude der Firma Harting in Minden/Westfalen. Benachbart einer klassizistischen Bebauung, assimiliert sich ihr der Bau, indem er mit dem Portikus-Motiv spielend zwei markante Ecktürme an die Straßenfront setzt, sie auf halber Höhe mit einem überdimensionalen Architrav verbindet und dazwischen ein mittig zum Halbturm gekapptes, aufgeschnittenes Kreissegment postiert. Von vorn nach hinten schräg aufsteigend, ist dessen Dach amphitheatrisch konturiert von aufrecht stehenden Shed-Elementen, wodurch die darunter befindlichen Büros belichtet werden. Der hier als Torso zitierte zylindrische Turm, oft zur Schiefen Ebene aufgeschnitten, verleiht Sakral- ebenso wie Profanbauten neben dem dynamischen Drive eine außergewöhnliche Aura. Zeichenhaft am Museum of Modern Art in San Francisco oder in der Kirche San Giovanni Battista in Mogno (Schweiz), wo der Solitär konzentrisch fokussierte Kontemplation erzeugt.

Ist Mario Botta im LEEUM Samsung Museum Seoul 2004 noch ganz „bei sich“ indem er Rektangeln und Triangeln der Grundgestalt unter dem lichtspendenden Okulus im Dach noch einen fulminant kreiselnden Treppenturm in Trichtergestalt spendiert, sind 2009 die Rundungen beim orthogonalen Bechtler Museum in Charlotte (USA) verschwunden; bis auf die verschämte Reminiszenz eines spindelförmigen Säulchens mit mittiger Entasis im Eingangsbereich. Ob damit freilich ein Abgesang auf „Bottas elitären Pop“ angestimmt ist, dürfte eher spekulativ sein: Bereits 2001 überraschte er mit einer minimalistischen Konstruktion transluzenten Kunststoffs über der Zentralhaltestelle in Lugano (er wird doch nicht dem technoiden Morbus Fassadismus verfallen!) – und machte danach weiter mit seiner Haute Couture hau- und kunststeinerner sowie terrakottener Gebäudegewänder, denen er immer wieder höchst spektakuläre Licht-, Ein- und Ausblickschneisen schneidert, sie mit figurativen Applikationen aufpeppt, freilich ohne geringste Bling-Bling-Attitüde – abwarten, ob „die Projekte auf meinem Tisch, darunter einige für China und die boomenden Städte Asiens“ Mario Bottas ganz eigenen kreativen Metabolismus, die Umwandlung von Geometrie in „meine Architektur der starken Bilder“ fortführen werden.

 

Mario Botta. Architetture 1960-2010, Museo di arte moderna e contemporanea di Trento e Rovereto (MART), Rovereto, bis 23. Januar 2011; vom 1. April bis 1. August 2011 im Centre Dürrenmatt, Neuchâtel; Katalog, (leider nur in Italienisch, wie übrigens alle Informationen in der Ausstellung), 528 Seiten, 1000 Illustrationen, broschiert 60 Euro

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