„Wir müssen die Qualität des Vorhandenen wertschätzen“

Keine Frage, der Fassade kommt innerhalb der gesamten Planung eines Gebäudes eine besondere Bedeutung zu. Sie ist gestaltprägend und der Materialeinsatz ist hoch. Wir wollten daher von Susanne Stolper, Spezialistin auf dem Gebiet der Fassadenplanung, wissen, was für eine zirkuläre Planung von Fassaden eine besondere Rolle spielt und wie sich durch eine vorausschauende Konzeption Materialein-satz sowie CO2-Ausstoß verringern lassen.

Susanne Stolper ist Fassadenplanerin und leitet das Building Envelope Design Team im Berliner Büro von Arup. Die ausgebildete Architektin hat über 20 Jahre Erfahrung in der Bauindustrie sowie umfangreiche und vielseitige Kenntnisse in allen Leistungsphasen der Fassadenplanung von der Konzeptentwicklung bis zur Umsetzung. Dabei setzt sie sich vor allem für eine ganzheitliche Betrachtungsweise in Zusammenarbeit mit den für das Projekt verantwortlichen Protagonisten ein
Foto: Ulrich Rossmann
Susanne Stolper ist Fassadenplanerin und leitet das Building Envelope Design Team im Berliner Büro von Arup. Die ausgebildete Architektin hat über 20 Jahre Erfahrung in der Bauindustrie sowie umfangreiche und vielseitige Kenntnisse in allen Leistungsphasen der Fassadenplanung von der Konzeptentwicklung bis zur Umsetzung. Dabei setzt sie sich vor allem für eine ganzheitliche Betrachtungsweise in Zusammenarbeit mit den für das Projekt verantwortlichen Protagonisten ein
Foto: Ulrich Rossmann

Frau Stolper, was macht das Besondere Ihrer Tätigkeit aus?

Zusätzlich zu den klassischen Aufgaben der Fassadenplanung beschäftigen wir uns bei Arup auch mit ganzheitlichen, integrierten Konzepten für die Gebäudehülle. Wir sind ein multidisziplinäres Planungsteam und arbeiten eng mit unseren Kollegen aus den Bereichen Bauphysik, Nachhaltigkeit, Tragwerksplanung und Gebäudesimulation zusammen. Wir bemerken schon seit einiger Zeit, dass aufgrund der ständig steigenden Anforderungen an Bauphysik und Nachhaltigkeit ganzheitliche Planungen immer wichtiger werden.

 

Durch das Pariser Klimaabkommen und die Taxonomie-Verordnung sind politische Rahmenbedingungen geschaffen worden, die für zu tätigende Investitionen, gerade auch im Bau- und Immobiliensektor, die Einhaltung entsprechender Schutzziele fordern. Was bedeutet das für Ihren Tätigkeitsbereich?

Die EU hat einen umfangreichen Maßnahmen­katalog auf den Weg gebracht, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen. Die von Ihnen erwähnte Taxonomie-Verordnung, die Finanzströme in Richtung nachhaltige Entwicklung umlenken soll, verändert unsere Arbeit weitreichend, denn sie verlangt, dass für jede Investi-tion nachgewiesen werden muss, in welcher Weise und in welchem Umfang sie nachhaltig ist. Und diese Nachhaltigkeit muss nicht nur messbar gemacht, sondern auch offengelegt werden. Aus diesem Grund arbeiten wir schon seit einigen Jahren bei fast allen Projekten mit einem Nachhaltigkeitszertifizierungssystem.

 

Welche Projekte betrifft das konkret?

Kreditinstitute, Finanzdienstleister und große kapitalmarktorientierte Unternehmen sind zur Offenlegung der Nachhaltigkeit ihrer Investitionen verpflichtet. Sie geben diese Anforderung an die Planer weiter. Folglich sind alle größeren Projekte davon betroffen. In Deutschland wird der Nachweis in der Regel über eine DGNB-Zertifizierung erbracht, internationale Investoren nutzen auch LEED- oder BREEAM-Zertifizierungen. Die Anforderung, die Nachhaltigkeit von Investitionen mit Zertifizierungen nachzuweisen, hat tatsächlich viel verändert. Investoren und Planer sind nun gezwungen, das Thema Nachhaltigkeit bereits zu Beginn des Planungsprozesses zu berücksichtigen und während des gesamten Planungsprozesses weiterzuverfolgen.

  Energetische Sanierung und Modernisierung eines Wohn- und Geschäftshauses aus dem Jahr 1956. Bei dem Projekt Berliner Allee 48 in Düsseldorf wurden vorhandene Baumatrialien wiederverwendet und ertüchtigt
Foto: Arup

Energetische Sanierung und Modernisierung eines Wohn- und Geschäftshauses aus dem Jahr 1956. Bei dem Projekt Berliner Allee 48 in Düsseldorf wurden vorhandene Baumatrialien wiederverwendet und ertüchtigt
Foto: Arup

Was bedeutet das für den Teilaspekt der Fassadenplanung?

Bei der Fassadenplanung sind grundsätzlich zwei Dinge zu beachten: Zum einen ist die Fassade maßgeblich für den Energieverbrauch des Gebäudes während der Nutzung verantwortlich. Das bedeutet, dass wir die energetische Qualität der Fassade optimieren müssen. Dies wird von den Zertifizierungssystemen und durch die steigenden gesetzlichen Anforderungen ge­fordert. Zum anderen ist es wichtig, die CO2-Emissionen bei der Herstellung der Bauteile zu reduzieren. Auch das wird jetzt in die Zertifizierungssysteme zunehmend aufgenommen. Das Besondere an der Fassadenplanung ist dieses Zusammenspiel – oder auch Abwägen – zwischen den Einsparungen beim operativen Energieverbrauch und den Einsparungen bei der grauen Energie, die bereits in der Herstellungsphase anfällt.

 

Wie beeinflusst das Ihren Planungsprozess?

Es reicht nicht mehr aus, nur die Wärmedämmung zu verbessern. Im Sinne einer zirkulären Planung ist es auch wichtig, den Einsatz von Recyclingmaterialien zu berücksichtigen und darüber nachzudenken, was mit den verwendeten Materialien passiert, wenn das Gebäude abgerissen werden muss. Sind diese Materialien dann für eine Weiterverwendung geeignet? Solche Aspekte rücken immer stärker in den Vordergrund. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Sanierung, die ebenfalls Teil des EU-Maßnahmenpakets ist. 85 % der heute bestehenden Gebäude in der EU wurden vor mehr als 25 Jahren gebaut und werden auch im Jahr 2050 noch stehen. Es besteht also ein enormer Sanierungsbedarf. Die EU-Initiative zur Sanierungswelle hat deshalb zum Ziel, dass sich die Sanierungsrate bis 2030 verdoppelt.

  Der Einsatz vorhandener Matrialien spart nicht nur Geld, sondern auch Abfall, Energie und CO₂-Emissionen während der Herstellung. 
Die Energieeinsparung während
der Nutzungsphase beträgt  40 bis 50 %.
Foto: Arup

Der Einsatz vorhandener Matrialien spart nicht nur Geld, sondern auch Abfall, Energie und CO₂-Emissionen während der Herstellung. 
Die Energieeinsparung während
der Nutzungsphase beträgt  40 bis 50 %.
Foto: Arup

Macht die Entscheidung Neubau oder Sanierung einen Unterschied in der Herangehensweise?

Es gibt Ähnlichkeiten. Bei Sanierungsprojekten sollten wir versuchen, so viel wie möglich vom Bestandsgebäude zu erhalten und – wann immer möglich – vorhandene Bauteile weiter zu verwenden. Das spart sowohl Ressourcen als auch CO2-Emissionen für die Herstellung neuer Bauteile. Wenn gut erhaltene Bauteile nicht länger genutzt werden können – weil sie beispielsweise die aktuellen Anforderungen nicht mehr erfüllen – lassen sie sich möglicherweise an anderer Stelle oder in einem anderen Gebäude weiterverwenden. Solche Weiterverwertungskonzepte gehören inzwischen zur Planung dazu – auch beim Neubau. Für die Fassade bedeutet das ganz konkret: Wir sollten künftig Rückbaukonzepte mit einplanen, die eine zirkuläre Nutzung der Materialien vorsehen.

Aktuell arbeiten wir zum Beispiel an einem Holzmodulbau, bei dem ein besonderer Fokus auf Flexibilität, Erweiterbarkeit bzw. Verkleinerung und Anpassbarkeit liegt, sodass in Zukunft unterschiedlichste Nutzungen möglich werden und die Fassadenelemente bei Bedarf auch an anderen Modulen wieder eingebaut werden können. Für die Fassade bedeutet dies Demontagekonzepte, die klar auf Zirkularität ausgerichtet sind.

 

Wo stehen wir in diesen Prozessen aktuell?

Es gibt mittlerweile viele digitale Plattformen, die gebrauchte Materialien anbieten und es sind auch große Mengen an gebrauchten Materialien verfügbar. Trotzdem ist die Wiederverwertung von Materialien gerade bei der Fassadenplanung schwierig, da Fassadenkomponenten meist sehr hohe technische Anforderungen erfüllen müssen. Es ist allein schon eine Herausforderung, Prüfstrategien zu entwickeln und Zertifizierungen zu erhalten, um nachzuweisen, dass diese Materialien wirklich für eine weitere Verwendung geeignet sind. Auch das gehört zu unserem Aufgabenbereich. Wir analysieren die vorhandenen Materialien und prüfen, ob sie für eine Neuinstallation noch ausreichend leistungsfähig sind. Ein zweites Problem ist der rechtliche Aspekt, also die Tatsache, dass alle Baustoffe in Deutschland eine bauaufsichtliche Zulassung benötigen, beziehungsweise ein CE-Kennzeichen, das alte Bauteile vor 1985 einfach nicht haben. Der Umgang damit ist noch in der Entwicklungsphase. Die Gesetzgebung muss sich darauf einstellen und versuchen, entsprechende Sonderregelungen zu finden.

 

Wie schwierig ist es, das passende Material ­

zu finden?

Der richtige Zeitpunkt ist nach wie vor ein Problem: Es werden ja keine Materiallager gebaut, sondern nur Vermittlungsplattformen, die das Material von einer Baustelle für die nächste anbieten. Wenn es nicht sofort verbaut werden kann, ist der Käufer dafür verantwortlich, das Material zu lagern, bis es eingesetzt wird. Eine Ausnahme bildet Klinker. Klinker ist auf dem Markt erhältlich und wird tatsächlich in großen Mengen gelagert.

Führt das zu einer Umkehrung im Entwurfsprozess?

Ja, das ist eine sehr große Herausforderung für die Architekten. Sie müssen ihre Entwürfe künftig an das auf dem Markt verfügbare Material anpassen. Und wenn dann passendes Material gefunden ist, muss es sofort gekauft werden. Das bedeutet Lagerkosten und erfordert Kunden, die bereit sind, in dieser frühen Phase in das Projekts zu investieren.

Verpflichtend ist das Ganze aktuell nicht. Glauben Sie, das wird kommen und reicht das vorhandene Material dafür auch aus?

Wir werden weiterhin auf neue Ressourcen angewiesen sein. Wie gesagt, die Fassadenplanung ist ein sehr spezieller Bereich. Es gibt sicher andere Bereiche, in denen Materialien einfacher wiederverwendet werden können. Im Innenausbau zum Beispiel. Dort könnte man zum Beispiel ehemalige Steinfassadenplatten als Bodenbelag verwenden, wo die technischen Anforderungen geringer sind. Die kreative Auseinandersetzung mit Umnutzungsmöglichkeiten wird zunehmen und zu einem neuen ästhetischen Ansatz führen. Wir lernen, die Qualität des Vorhandenen und die Geschichte des alten Materials wertzuschätzen. Dies bedeutet eine Abkehr vom Perfektionsanspruch, der sich in den letzten Jahren in der Architektur entwickelt hat und zu viel Ausschuss und viel Abfall während der Produktion geführt hat. Hier gilt es, auf ein sinnvolles Maß zurückzukehren.

 

Wie konsequent verfolgen Sie diesen Ansatz bei sich im Büro bereits?

Prinzipiell ist das für uns ein wichtiges Planungskriterium, aber es hängt natürlich auch vom Kunden ab. Die notwendige Katalogisierung ist aufwendig. Wir berücksichtigen diesen Aspekt aber in allen unseren Beratungen. Wir wollen die einzelnen Komponenten einfach trennbar machen, so dass das sie gut wiederverwendbar sind. Das ist uns wichtig. Wir versuchen, Verbundstoffe zu vermeiden und beschäftigen uns zunehmend mit dem Holzbau. Vieles ist auch eine Frage der Systementwicklung: So hat Aluminium beispielsweise einen sehr hohen CO2-Ausstoß in der Herstellung, ist aber ein Material, das man gut wiederverwenden oder recyceln kann, ohne Qualitätsverlust in Kauf nehmen zu müssen.

 

Wie reagieren aus Ihrer Sicht die Hersteller von Bauprodukten?

Auch da nehmen wir ein Umdenken wahr. Viele Unternehmen arbeiten bereits daran, ihre Herstellung zu dekarbonisieren. Und ohne das geht es auch nicht. Allein mit der Planung kommen wir da nicht weiter.

 

Interview: Katja Reich/DBZ
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