Mut zur Lücke

Bis vor wenigen Jahren bot das niedersächsische Braunschweig noch vergleichsweise günstigen Wohnraum, doch nun hat sich die Lage am Immobilienmarkt auch dort massiv verschärft. Ein von der Studierenden Wiebke Dittmann ausgearbeitetes Überbauungskonzept zeigt, wie die Stadt von einer Nachverdichtungsstrategie profitieren könnte. Mit ihr sowie mit Professor Dan Schürch und Institutsmitarbeiter Oskar Görg vom Institut für Entwerfen und Baugestaltung der TU Braunschweig diskutierten wir über konkrete Lösungsansätze zu diesem Thema.

Herr Schürch, neben Ihrer Lehrtätigkeit sind Sie Inhaber und Geschäftsführer von Duplex Architekten in der Schweiz – dort ist Baugrund per se sehr begrenzt verfügbar.  Hängt das auch damit zusammen, dass dort seit jeher viel nachverdichtet wird?

Dan Schürch: Ich denke, dass ökonomische Aspekte da sicherlich eine maßgebliche Rolle spielen. Viele Menschen haben ja den Traum vom Haus im Grünen und langsam wächst die Erkenntnis, dass sich das so in der Zukunft nicht mehr realisieren lässt. In der Schweiz kann man gar nicht anders, als aus dem wenigen noch verfügbaren Raum das Maximum herauszuholen. Ich denke in Deutschland wird das auch noch eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Voraussetzung dafür ist, dass sich der Nachhaltigkeitsgedanke noch stärker in der Gesellschaft verankert. Die Sichtweise „wenn ich teile, habe ich mehr“, muss erst noch in den Köpfen der Menschen ankommen. Dabei können auch Pilotprojekte helfen, die sich dieses Themas vertiefend annehmen.

Ein solches Projekt ist das Aufstockungskonzept von Wiebke Dittmann, das an Ihrem­ Lehrstuhl, dem Institut für Entwerfen und Baugestaltung an der TU Braunschweig, entstanden ist. Wie kam es zustande?

Wiebke Dittmann: Ich habe eines Tages einen Artikel der Braunschweiger Zeitung gelesen, in dem von Zuschüssen für innerstädtische Bau­lückenschließungen berichtet wurde. Diese Finanzierung gibt es schon seit über 25 Jahren, zu konkreten Baumaßnahmen ist es seitdem jedoch nicht gekommen. Ich habe das dann als Anlass genommen, ein Nachverdichtungskonzept mit modularen Wohnungen für den städti­schen Raum zu entwickeln. Mit dieser Idee bin ich dann proaktiv auf das Institut zugegangen.

Dan Schürch: Wiebkes Projekt ist bei uns im Rahmen eines freien Entwurfs entstanden, den wir jedes Semester anbieten. Der Gedanke dahinter ist, dass die Studierenden mit ihren eigenen Ideen an uns herantreten können und wir sie dann individuell dabei unterstützen. Die Interdisziplinarität ist hierbei ein wegweisender Ansatz. So wird das Institut zu einer Art Denkwerkstatt, wobei sehr interessante Projekte entstehen. Wiebkes Arbeit ist das beste Beispiel dafür. Als sie mit ihren Ideen an uns herantrat, haben mein Assistent Oskar Görg und ich das Potenzial dieses Entwurfes sehr schnell erkannt.

Die Umsetzung eines solchen individuellen Entwurfs neben dem normalen Betrieb stellt für Studierende und Lehrende eine große Herausforderung dar – wie gelingt es dennoch?

Oskar Görg: Die Frage der Machbarkeit stellt sich sowieso immer, das gilt insbesondere für so einen freien Entwurf. Wenn man mal nicht weiterkommt, oder konstruktive Fragen abklären muss, hilft der Input von anderen Institutionen – auch weil wir Lehrenden immer nur ein begrenztes Zeitfenster für die Studierenden haben. In der Praxis ist das dann ja auch nicht anders. Bei technischen Aspekten wende ich mich als Architekt ja auch an den Fachplaner. Bei Wiebkes Idee einer Aufstockung hat sich beispielsweise gezeigt, dass das Tragwerk für die Umsetzung des Entwurfs eine sehr wichtige Rolle spielt, weswegen das Institut für Tragwerksentwurf zu einem sehr frühen Stadium miteinbezogen wurde.

Entstanden ist dabei eine Aufstockung in Form einer Stahlkonstruktion, die wie ein Kran über der Baulücke zu schweben scheint. Wie funktioniert das statische System?

Wiebke Dittmann: Ich hatte ursprünglich die Idee, eine Holzkonstruktion zu verwenden. Das habe ich nach Gesprächen mit den Mitarbeitern des Instituts für Tragwerksentwurf wegen der Spannweiten von 10 m jedoch schnell wieder verworfen und stattdessen Stahl gewählt. In Anlehnung an die alten Braunschweiger Fachwerkbauten habe ich ein Fachwerk als sta­tisches System gewählt. Das Fundament der Stahlkonstruktion wird im Bereich des Gehwegs mittels eines Spinnankers und eines Sitzmöbels aus Beton gebildet. Die Erschließung erfolgt über eine außenseitige Treppe, die über gemeinschaftlich genutzte Terrassen in die oberen Wohnungen führt. Diese schweben über dem Baubestand und sind über auf Zug beanspruchte Pylone mit der Fachwerkstruktur verbunden. Zugunsten der Wirtschaftlichkeit wurde das Tragwerk auf modularer Basis entwickelt und dabei mit einem Achsmaß von 2 m konzipiert. Auch die Wohnungen sind modular, orientieren sich jedoch nicht an den Maßen der Stahlkonstruktion, sondern können in der Breite je nach Baulückengröße variieren.

Oskar Görg: Das Bauwerk legt sich wie eine zweite Hülle um den Bestandsbau. Auf diese Weise könnte etwa der Luftraum über dem ­Bestand gepachtet werden. Das wiederum würde zusätzliche finanzielle Anreize für die Eigentümer der Liegenschaften schaffen; gleichzeitig hätte die Stadt Braunschweig die Möglichkeit, sehr schnell dringend benötigten Wohnraum zu schaffen. Die Grundfläche des kleinsten Wohnmoduls beläuft sich auf knapp 30 m² und kann beliebig vergrößert werden, da die trennenden Wände nichttragend und die Wohnungen außerdem frei von Stützen sind.

Dan Schürch: Abgesehen von der modularen Bauart, eröffnet der temporäre Ansatz große Potenziale für die Nachverdichtung im städtischen Raum – auch deswegen, weil die Dachhaut des Bestandsbaus dabei nicht angegriffen wird. Dadurch können gewisse gesetzliche Hürden umgangen werden, die einem solchen Projekt andernfalls den Garaus bereiten würden. Die Konstruktion ist prägnant, eine durchaus mutige Geste. Eine solch raumgreifende Intervention verändert das Stadtbild und lädt zum Nachdenken ein. Die Sitzgelegenheit im Bereich der Erschließungsfläche ist außerdem eine gute Idee, der Stadt Raum zurückzugeben.

Das bedeutet, eine Realisierung dieses Projekts wäre durchaus möglich. Gibt es vonseiten der Stadt Braunschweig konkrete Ideen dazu?

Wiebke Dittmann: Ich hatte im Zuge der Entwurfserstellung regelmäßig Kontakt zur Stadt Braunschweig, beispielsweise um Details zu gewissen Richtlinien zu erfragen. Ich habe den Ansprechpartnern dann auch eine Broschüre zukommen lassen, in dem das Konzept anschaulich gut dargestellt wird. Meine Hoffnung war, dass der Entwurf als Inspiration für konkrete Nachverdichtungsprojekte verwendet wird. Bisher ist damit jedoch leider noch nichts passiert. Auf Nachfrage haben mir die zuständigen Personen mitgeteilt, dass man meine Arbeit zur Kenntnis genommen habe, sie aber nicht die richtigen Ansprechpartner seien, da solche Baumaßnahmen vonseiten der Eigentümer erfolgen müssten.

Ist das nicht die Grundidee dieses Entwurfs, solche Hürden bewusst zu umgehen?

Wiebke Dittmann: Genau das war meine Intention. Immerhin hat sich dann die Braunschweiger Zeitung bei mir gemeldet und einen Bericht über meine Arbeit verfasst. Seitdem habe ich von vielen Seiten sehr positive Rückmeldungen erhalten. Meine Hoffnung ist, dass der Entwurf dadurch vielleicht auf andere Weise den Weg in die Praxis findet. Für mich selbst war dieses Projekt auf jeden Fall ein Gewinn. Durch die Entwicklung der konstruktiven Details habe ich sehr viel über statische Aspekte gelernt und dadurch auch eine andere Sicht auf die Architektur bekommen. In diesem Sinne hat sich der Aufwand auf jeden Fall gelohnt. Yoko Rödel/DBZ

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