Längstbekanntes ganz neu

„Deutschland steht erneut vor einer dramatischen Wohnungsnot“ schreibt der Herausgeber Andreas Hild in seinem Vorwort, das „erneut“ bezieht er auf die Nachkriegsjahre des Kriegs 1939–45. Dass das nicht stimmt, muss ausdrücklich geschrieben werden, Wohnungen sind, im Gegensatz zu den Nachkriegsjahren, vorhanden, nur ist ein Großteil davon in Zeiten des Niedrigzinses als Kapitalanlage entwickelt worden mit dem Ergebnis, dass zu teuer (zu hochwertig, zu groß, zu sehr in Best-Lage) gebaut wurde.

Davon abgesehen ist das, was massenhaft und längst vorhanden ist und von dem wir auszugehen haben, in keinem guten Zustand. Der Bestand des (Massen-) Wohnungsbaus hat gelitten. Auch unter dem Neubau, der aus den eigentlich guten Wohnungen die Besserverdienenden lockte, zurück blieben die Wenigerpriviligierten in überbelegten Einheiten. Trotz vorhandener Rendite wurden die zum „sozialen Brennpunkt“ diffamierten Orte baulich vernachlässigt, Sanierungen nicht gemacht, der Abriss schon.

Was wir in diesen Zeiten davon zu halten haben muss nicht schon wieder erzählt werden, erfreulicherweise gibt es Bestandshalter, Bauherrschaften und Architektinnen, die sich Gedanken dazu machen, wie der ungeliebte Bestand wiederbelebt werden könnte in aller Interesse, auch dem der Ökonomie.

Als „Pars pro Toto“ haben sich die Autoren der vorliegenden Publikation Neuperlach angeschaut, Massenwohnungsbau der 1960er-Jahre, südliche Vorstadt Münchens, wo das Wohnen auch für Gutverdienende zum Problem geworden ist. Schon 2018 machte sich das TUM-Team der Professur für Entwerfen, Umbau & Denkmalpflege in diese Region auf, „Neuperlach ist schön“ war der Titel. Jetzt geht es ins Detail, wobei eine wesentliche Intervention die „bewohnbare Dämmung“ ist, also eine zweite, räumlich definierte Schicht vor dem Bestand (Wintergarten-Module). Die Idee ist nicht neu, Lacaton & Vassal hatten sie aus ebenfalls historischen Typologien für den Massenwohnungsbau publik und populär gemacht. Das Längstbekannte wird in dieser Arbeit nun in Varianten und an unterschiedlichen Gebäudetypen durchgespielt, einmal hinsichtlich Energieverbräuchen mit Lebenszyklusanalysen, aber auch mit Blick auf die Ökonomie, das wirtschaftliche Konzept, wie am Ende auch mit Blick auf den sozialen Mehrwert.

Dass am Schluss noch einige studentische Entwürfe gezeigt werden, die auf der Grundlage des Vorangegangen Zu- und Umbauten (Grundrisse) ausprobieren und Vorschläge machen für eine Aufwertung der überholten Grundrissplanungen, das macht die gut strukturierte Überblicksarbeit mit Detailtiefe zur soliden Planungs- und Arbeitsgrundlage für eine Reaktivierung von Bestandsbauten, die auch unter baulichen Mängeln leiden, zuerst aber unter ihrer Wahrnehmung als Nichtorte, die es zu meiden gilt.

Ob wir am Ende aller Planung und Sanierung, allen Umbauens und Instandsetzens zu den Schlagworten der New European Bauhaus-Doktrin „beautiful, sustainable, together“ gelangen, ist eher nebensächlich. Dass wir mit gezielten und wenig invasiven Maßnahmen aber Gemeinschaften, gemeinschafliches Wohnen/Leben wieder möglich machen können, das wird hier anschaulich beschrieben. Los also! Be. K.

Caroline Dietlmeier,
Stefan Gruhne, Simon Pytlik und Mascha Zach, Wohnen weiterbauen. Großwohnsiedlungen in die Zukunft bringen. Hrsg. v. A. Hild u. A. Müsseler. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2025, 312 S., 285 Farb- u. 48 sw-Abb,59 €, ISBN 978-3-7861-2912-7
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