Für neue Horizonte: Kulturhauptstadt Chemnitz

Ein Jahr „Europäische Kulturhauptstadt“ – Chemnitz und die mittelsächsische Region (sowie Nova Gorica/Slowenien und Gorizia/Italien) haben den Titel 2025 inne. Im Südwesten Sachsens liegend, ist die Region gewillt, sich neu zu erfinden und zu beleben. Neben Leipzig und Dresden ist Chemnitz die wichtigste Stadt im Bundesland und blickt auf eine reiche und wechselvolle Geschichte zurück. Der Spagat ist groß zwischen dem „Sächsischen Manchester“, der „Stadt der Moderne“ und der Jetztzeit. Waren es früher bedeutende Maschinenfabriken, sind es heute Neuansiedlungen großer Unternehmen sowie Forschungszentren, die das Stadtverständnis mitprägen.

Dass die berühmte Villa Esche von Henry van de Velde hier steht, genauso wie das Kaufhaus Schocken von Erich Mendelsohn, das nach langem Leerstand 2014 als Staatliches Museum für Archäologie Chemnitz wiedereröffnet wurde, ist vielen nicht bekannt. Auch sanierte Gründerviertel wie der Kaßberg sowie verschiedene Industriedenkmäler und baugeschichtlich bedeutsame Objekte aus DDR-Zeiten machen die Stadt sehenswert und werden nun Stück für Stück von den zahlreichen Besucherinnen und Besuchern entdeckt.

Laut einer kürzlich veröffentlichten Statistik gibt es in Chemnitz und der Kulturhauptstadtregion einen Zuwachs bei den Übernachtungszahlen, während die Zahlen für Sachsen generell eher stagnieren. „Die meisten Besucherinnen und Besucher kommen aus der gesamten Bundesrepublik sowie dem deutschsprachigen Raum“, so Mareike Holfeld von Chemnitz 2025 gGmbH. „Unser Besuchszentrum in der Hartmannfabrik zählt täglich zwischen 300 und 500 Gäste.“ Auch die eigens eingerichteten, von Freiwilligen geleiteten, kostenlosen Stadtführungen am Wochenende seien mit 150 bis 200 Menschen sehr gut besucht. Für die Zukunft stimmt das hoffnungsvoll, denn Erfahrungen anderer europäischer Kulturhauptstädte zeigen, dass es auch nach dem Kulturjahr bei einer nachhaltigen Steigerung der Tourismuszahlen bleibt.

Viele konnten sich das Projekt
Kulturhauptstadt nicht vorstellen

Überlagert von den Querelen der Vergangenheit und immer wieder provozierenden Veranstaltungen von Radikalen, fragte man sich lange, ob es denn gutgehen würde mit der Bewerbung zur Kulturhauptstadt einerseits, aber auch mit der Akzeptanz des Vorhabens in der Bevölkerung andererseits. Nach der Titelvergabe 2020 und dem Beginn des Arbeitsprozesses gab es zunächst eine Phase großer Euphorie, gefolgt von starker Skepsis in den Jahren 2022 und Anfang 2023, berichtet Holfeld. „Zu diesem Zeitpunkt wurde oft gefragt, was überhaupt geschehen solle, da sich viele Menschen das Projekt nicht vorstellen konnten“, erklärt sie weiter. „Das ist verständlich, schließlich ist der Prozess lang und die spezifischen Auswirkungen einer Kulturhauptstadt sind individuell und schwer vorhersehbar.“ Die Wende kam im Herbst 2024, als sich mit der Programmveröffentlichung die Puzzleteile zusammenfügten. Die Eröffnungsfeier im Januar löste große Euphorie aus, die bisher ungebrochen ist. „Zahlreiche Einrichtungen haben uns berichtet, fast ein bisschen überrannt worden zu sein“, so Mareike Holfeld.

Chemnitz ist vielfältig und zeigt das mit einem immensen Programm, das bereits Ende 2024 begann und noch bis in den November dieses Jahres läuft. Unter dem Motto „C the unseen“ finden im Kulturhauptstadtjahr über 1 000 Kulturveranstaltungen und 223 Projekte statt. Mit im Boot sind 38 Städte und Gemeinden aus Mittelsachsen, dem Zwickauer Land und dem Erzgebirge. Viele Projekte sind aus Ideen der Bevölkerung entstanden, was eine starke Identifikation mit dem Programm erhoffen ließ. Mehr als 1 000 Freiwillige hatten sich registriert, um beim Jahresprogramm zu helfen. „Sie möchten ihre Arbeit als große Gruppe auch nach dem Kulturhauptstadtjahr fortsetzen, sich weiterhin für die Vermittlung einsetzen“, sagt Holfeld. Viele ältere Menschen seien darunter, die nicht mehr arbeiten, aber genauso Berufstätige und Studierende.

Vertrauen gewinnen als Kernelement

Das in der Bewerbung zum Kulturhauptstadtjahr formulierte Ziel, möglichst viele Menschen zum Mitmachen zu bewegen, geht laut den Veranstaltern auf. Ein interessantes Beispiel für eben jene Partizipation ist das Projekt „#3000Garagen“ von Kuratorin Agnieszka Kubicka-Dzieduszycka und ihrem Team. Dafür gingen sie aktiv auf die Garagennutzer zu, halfen bei Putzaktionen in Garagenhöfen, brachten Bratwürste und Bier mit und lernten die Leute kennen. So gewannen sie deren Vertrauen und das Interesse, mit verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern zu arbeiten. Die Geschichten und Erlebnisse der Garagennutzerinnen flossen über das Jahr in ganz unterschiedliche Kunstprojekte ein.

Andernorts, wie in Lößnitz und Schneeberg, haben engagierte Vereine Betreibergemeinschaften für sogenannte „Makerhubs“ gegründet, in denen die Bevölkerung zu kreativen Angeboten eingeladen wird. Bereits 2022 waren acht Standorte dafür in und rund um Chemnitz bestimmt worden. Eingerichtet wurden sie jeweils in präg-nanten, geschichtlich und im Ort relevanten Gebäuden, die zuvor leer standen und groß genug für vielfältige Kulturveranstaltungen sind. Initiiert vom Chemnitz-2025-Projekt „Makers, Business & Arts“ dienen sie als offene Werkstätten und Begegnungsorte. Neben der Nutzung im Kulturhauptstadtjahr ist es vor allem das Ziel, feste Standorte für die bislang teilweise unterrepräsentierte Kultur- und Kreativwirtschaft zu schaffen und neue wirtschaftliche Perspektiven zu eröffnen.

Horizontverschiebung und
wichtiges Vermächtnis

In Chemnitz ist die „Stadtwirtschaft“, die ehemalige Stadtreinigungsanlage, eine der 30 Interventionsflächen aus dem Stadtentwicklungsprogramm für Chemnitz 2025. Es entsteht ein Ort mit Ateliers und Veranstaltungsräumen, an dem Kreativität, Bildung, Handwerk und Nachbarschaft zusammenkommen. Die langfristige Bewirtschaftung und der Erfolg all dieser Orte nach dem Kulturhauptstadtjahr – einschließlich der Makerhubs – sind Teil des sogenannten „Legacy Planungsprozesses“, den die Stadt Chemnitz entwickelt. „Es ist jedoch klar, dass es für die Weiterführung dieser ‚Legacy‘-Projekte weiter Unterstützung geben muss“, so Holfeld.

Einen Tag vor Abschluss des Kulturhauptstadtjahres wird am Kunst- und Skulpturenweg „Purple Path“ in der Erzgebirgsstadt Oelsnitz das große Lichtkunstwerk „Ganzfeld – Beyond Horizons 2025“ von James Turrell eröffnet. In der begehbaren Lichtskulptur verliert man das Gefühl für Zeit und Raum – ein Turrell, wie er im Buche steht (für das Publikum ab dem 29. November geöffnet).

Also: Der Horizont für Chemnitz hat sich mit dem Kulturhauptstadtjahr verschoben und man wünscht der Stadt, dass die neuen, farbenfrohen Bausteine auch zukünftig zu Vielfalt und neuen Arten der Gemeinschaft beitragen.

Katinka Corts

www.chemnitz2025.de

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