Wie mit angehaltenem Atem
Dass Chemnitz, alias Karl-Marx-Stadt, Europäische Kulturhauptstadt 2025, hier im Westen ein wenig aus dem Blick geraten ist, wird man in Chemnitz nicht anders erwartet haben, Dresden sowieso aber auch Leipzig stehen deutlich mehr im Fokus bundesrepublikanischer Ost-Wahrnehmung. Mit Recht? Eher nicht.
Die damalige und immer noch – oder wieder? – bedeutende Industriestadt mit langer Geschichte ist auch nach ihrer zweiten Umbenennung nicht geheuerlicher geworden, Chemnitz, deren Name weniger mit Chemie als viel mehr mit dem sorbischen kamjenica, „Steinbach“ zu tun hat, ist für viele noch immer Terra incognita, trotz Chris-toph Ingenhoven, Hans Kollhoff, Grüntuch Ernst und trotz der Band Kraftklub, deren Frontmann Felix Kummer 2012 noch sang: „Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, bin ein Verlierer, Baby, original Ostler / Ich steh auf keiner Gästeliste / Ich bin nicht mal cool in einer Stadt, die voll mit Nazis ist, Rentnern und Hools / Ich cruise bananeessend im Trabant um den Karl-Marx-Kopf / Die Straßen menschenleer und das Essen ohne Farbstoff“. Was nun Chemnitz?
Die Erhebung zu einer Kulturhauptstadt hat immer auch etwas damit zu tun, dass die so Erhobenen wieder sichtbar werden, europaweit. Was aber werden wir alle sehen? Menschenleere Straßen und Rentner zwischen Nazis? Der Fotograf Ruediger Glatz ging nach Chemnitz, seine digital hergestellten aber das Raue der analogen sw-Fotografie nachahmenden Porträts zeigen uns die Straßen der Stadt, ihre Plätze, Gebäude, das ganze Inventar als Spuren menschlichen Handelns. Eine längere Bildstreckte dokumentiert gedruckte Verbalattacken auf Stromkästen oder Schildermasten und manchmal geht die Kamera hoch zum düstren Himmel.
Die weniger dokumentarische als vielmehr subjektiv künstlerische Arbeit ist – mit Blick auf ihre Entstehungszeit – eine Bestandsaufnahme der Stadt vor ihrer Erhebung in den Kulturhimmel. Felix Kummer cruiste bananeessend im Trabi um die Karl-Marx-Büste, Ruediger Glatz macht das mit seiner Kamera. Den Kraftklub-Sound im Ohr, dieses Buch blätternd, offenbart sich die Stadt wie mit angehaltenem Atem bewegungslos als Ante-2025; nun müsste eine Fotografin das Post-2025 übernehmen. Wer reist hin? Be. K.