Vorsicht Farbe!
Fassadengestaltung mit
Keramik

Immer mehr Leuchtturm-Projekte überraschen durch eine außergewöhnliche Farbgebung. Dabei kommen häufig Terrakotta-Elemente mit glasierten Oberflächen zum Einsatz. Sie ermöglichen eine nahezu unbegrenzte Gestaltungsvielfalt, die individuelle Farbkonzepte mit einer reizvollen, dreidimensionalen Formensprache kombiniert.

Der Mut zu einer auffälligen Farbgestaltung ist bei der Fassade von jeher begrenzt. Meist fürchten Bauherren und Architekten, dass die Halbwertzeit derartiger Entwürfe zu gering ist. Bisweilen werden Teilbereiche von Gebäu­den mit Hilfe gewagterer Farben akzentuiert. Im Regelfall aber präsentieren sich Fassaden in der natürlichen Farbgebung der ver­wende­ten Materialien, wie etwa Naturstein, Keramik, Stahl oder Holz. Für entsprechend großes Aufsehen sorgt eine wachsende Zahl von Objekten der gehobenen Alltagsarchitektur, die mit offensiver, vollflächiger Farbigkeit ganzen Stadtarealen ein neues Gesicht verleihen. Dabei erweisen sich glasierte Keramikelemente als besonders hochwertige und vielseitige Gestaltungslösung. Zwei herausragende Beispiele sind das Central Saint Giles in London sowie die mit dem Deutschen Fassadenpreis ausgezeichnete Neue Synagoge in Mainz.

Grenzenlose Farb- und Formenvielfalt

Wie kaum eine andere Fassadenlösung er­mög­lichen glasierte Terrakotta-Elemente individuelle Farbkonzepte, die sich durch beeindruckende Leuchtkraft und lebendige Lichteffekte auszeichnen. Die Elemente können in jeder RAL-Farbabstufung hergestellt werden. Zudem lassen sich durch moderne Brenntechniken und augefeilte Mischverfahren fast alle Farbnuancen und Oberflächenstrukturen erzeugen. Weiteren Gestaltungsspielraum eröffnen Effektglasuren, bei denen die glatte Oberfläche mittels Pigmentierung und Punktierung aufgelockert wird, sowie matte Ausführungen oder Engoben.

Ebenso vielfältig ist die Auswahl bei den Formen. Sie reichen von kleinen, kachelähnlichen Tafeln bis hin zur großdimensionierten Platte von über 2 m Länge. Daneben gibt es schindelähnliche Elemente sowie eckige und runde Baguettes. Eine Vielzahl an keramischen Sonderformen können ganz nach eigenen Vorstellungen entwickelt werden. Hinzu kommen diverse Eckvarianten, zum Beispiel mit wechselnden Radien für elliptische Elemente.

Besonders reizvoll sind die dreidimensionalen Effekte, die sich mit Keramikelementen erzielen lassen. Sie schaffen umfassende Frei­räume für neue Ideen, wie sowohl Saint Giles in London als auch die Mainzer Synagoge zeigen. So setzt sich die Fassade des Jüdischen Gemeindezentrums aus Baguette-Elementen mit dreieckigem Querschnitt zusammen, die im Einklang mit der grünlich schillernden Oberfläche für eine beeindruckende Räumlichkeit sorgen.


Neue Synagoge: keramische Kalligrafie

Mit der Neuen Synagoge am Rand der Mainzer Innenstadt ist dem Kölner Büro von Manuel Herz Architekten ein bemerkenswer­ter Spagat zwischen traditioneller Blockrandbebauung und modernem Solitär gelungen. Mehr noch als der bandähnliche Bau­körper sticht die Fassade aus dem Stadtbild hervor. Die gezackte Silhouette bildet hebräische Buchstaben ab und spielt damit auf die zentrale Bedeutung der Schrift für die jüdische Lehre seit dem Mittelalter an. Durch die Art der Verlegung werden „Winkelstücke“ in Langform mit unterschiedlichen Gehrungsenden sowie differenzierten Schenkelbreiten zu dreidimensionalen Furchen und Rillen geführt. Die „geriffelte“ Keramik verweist auf das Einritzen bzw. Inskribieren, also die älteste Art des Schreibens. So wird die Fassade zum essentiellen Bestandteil des architektonischen Gesamtkonzeptes, das auf der Objektqualität von Schrift beruht.

Konsequenterweise erhielt die Neue Synagoge in diesem Jahr den Deutschen Fassadenpreis. Dabei lobte die Jury nicht nur die gelungene Umsetzung des symbolischen  Gehalts und die dreidimensionale Formensprache. Ebenso wurden die changierenden Grüntöne der Keramikoberflächen hervorgehoben, die das spirituell geprägte Architektur­konzept zusätzlich unterstützen. Grundsätzlich handelt es sich um eine hochglänzende, grünlich-transparente Glasur auf einem terrakottafarbenen Grundscherben. Die Farbentwicklung unterlag einem langen Prozess. Bereits vor mehreren Jahren entstand ein erstes Großmuster. Auf dieser Basis wurde die Farbe anhand von Probebrands im Labor fortlaufend weiterentwickelt, bis sie den Vorstellungen der Architekten entsprach. Durch den schrägen Querschnitt der Keramik neigt die Glasur dazu, während des Brennprozesses zu verlaufen. Das Resultat ist ein mannigfaltiges, unvorhersehbares Farbenspiel, das je nach Tageszeit, Lichteinfall und Perspektive von dunklem Blau bis zu strahlendem Grün reicht.

Ausgeführt wurde die Fassade als vorgehängte hinterlüftete Konstruktion. Dabei stellte die Verlegung der Keramik den Fassadenbauer vor eine besondere Herausforderung. Entsprechend eines genau definierten Fassadenplanes wurden die Bekleidungselemente konzentrisch um die Fensterausschnitte herum angebracht. Die Befestigung auf dem gedämmten Stahlbetonbau erfolgte durch Agraffen auf einer Unterkonstruktion aus Alu­minium. Die unterschiedlichen Winkel und die präzise Anordnung der Elemente im wilden Verband erforderten eine genau abgestimmte Logistik zwischen Hersteller und Fassadenbauer. Bereits im Vorfeld wurde für die Befestigung in diesem speziellen Fall eine Zustimmung im Einzelfall erwirkt.

Central Saint Giles: bunte Lebensfreude

Zweifelsohne ist die grünliche Fassadenoberfläche der Jüdischen Synagoge ein außergewöhnlicher Ansatz. Die Farbwahl ist jedoch geradezu dezent im Vergleich zu den Keramik­fassaden des Central Saint Giles. In kühnen Signalfarben erleuchtet die Gebäudekomposition von Renzo Piano weithin sichtbar das Londoner Westend und stellt damit alles in den Schatten, was die ohnehin bunte Metropole zu bieten hat. Ambitioniertes Ziel des Architekten war es, „Herz und Seele“ in den noch bis vor Kurzem stark vernachlässigten Stadtbezirk St. Giles zu bringen und für eine umfassende Verbesserung der Lebensqualität zu sorgen. Diesem Kredo entsprechend entwickelte Piano eine moderne Bebauung, die soziale Belange, kulturellen Reichtum und urbanes Lebensgefühl gleichermaßen berück­sichtigt. Der 12-geschossige Komplex setzt sich aus drei Einzelgebäuden zusammen, die circa 120 000 m² Bürofläche und über 100 Wohnungen beherbergen. Das Zentrum bildet eine Piazza mit Restaurants und Geschäften. Sie ist für die Allgemeinheit nutzbar, sodass sich hier das pulsierende Leben des Umfeldes fortsetzt.

Die Gebäude stehen auf Säulen, die zurückgesetzte Schaufensterflächen säumen. So entsteht der Eindruck, der Komplex schwebe über dem Boden. Eigentlicher Blickfang bleiben aber die in mehrfacher Hinsicht unorthodoxen Fassaden. Die 22 Fronten sind in unterschiedlichen Winkeln zueinander positioniert und variieren in Breite und Höhe. Jede Einzelfassade zeigt sich in einer von sechs kontrastierenden RAL-Farben, deren Brillanz durch die keramische Hochglanzglasur noch potenziert wird. Neben leuchtenden Gelb-, Orange-, Grün- und Rottönen wird das Spektrum durch zwei Grautöne ergänzt. Die Auswahl wurde mit Bedacht getroffen und wirkt keinesfalls schockierend. Vielmehr harmoniert sie mit den alten Ziegelfassaden und Bäumen der Umgebung und bildet gleichzeitig einen reizvollen Kontrast. Je nach Lichtverhältnis oder Sonneneinstrahlung verändern die Fassaden ihre Ausstrahlung, wobei jede auf ihre eigene Weise das Licht anzieht und der Architektur eine vitale Dynamik verleiht – wohl auch ein Symbol für die bunte Lebensfreude der Vielvölker-Metropole. Selbst an trüben und regnerischen Tagen ergeben sich dank der Glasur eindrucksvolle Effekte, wie zum Beispiel durch Regentropfen erzeugte, schillernde Reflexe. So erhält der Betrachter Tag für Tag einen neuen Farbeindruck.

Meisterleistung in Logistik und Montage

Wegen der variabel proportionierten Fassadenfelder erforderte die Herstellung der zwei­fach gebrannten und doppelt glasierten Keramikelemente einen enormen logistischen Aufwand. Insgesamt kamen rund 120 000 Elemente in unterschiedlichen Formen, Farben und Bemaßun­gen zum Einsatz. Obwohl ein beträchtlicher Teil in Handarbeit gefertigt wurde, nahm die Herstellung der Keramikteile nur sechs Monate in Anspruch. Um die Montage auf der Baustelle so effizient wie möglich zu gestalten, wurde das Ganze als einscha­lige Elementfassade ausgeführt. Entsprechend verarbeitete ein Fensterhersteller die Einzelteile im Vorfeld zu geschosshohen Modulen in der Breite einer Fensterachse. Die Vorfertigung erforderte ein Höchstmaß an Exaktheit in Bezug auf die Toleranz und Ebenheit der Keramik. Eine nachträgliche Regulierung wäre nicht mehr möglich gewesen.

Dann wurden die Fenstermodule auf die Baustelle nach London geliefert und mit justierbaren Verankerungen am Rohbau befestigt. Die Montage erfolgte geschossweise von unten nach oben. Aufgrund enger Straßenverhältnisse und fehlender Rangierfläche auf dem Baustellengelände verwendete man einen Spezialkran, der mittels Saugnäpfen jedes einzelne Modul in einem komplizierten Manöver vom darüber liegenden Stockwerk aus in die endgültige Position brachte. Die Verbindung der Elemente untereinander erfolgte durch speziell ausgebildete Kopplungsstöße mit sich überlappenden Dichtprofilebenen sowohl vertikal als auch horizontal.

Vorgehängt und hinterlüftet

Fassaden aus Keramik sollten grundsätzlich vorgehängt und hinterlüftet ausgeführt werden. Eine direkte Verklebung auf dem Untergrund hat sich nicht bewährt, weil ein beständiger Haftverbund nur schwer herzustellen ist. In bauphysikalischer Hinsicht sorgen vorgehängte hinterlüftete Fassaden für einen ausgeglichenen Feuchtehaushalt und bieten Schutz vor Witterungseinflüssen. Darüber hinaus lässt sich eine Wärmedämmung durch den flexiblen Aufbau der Unterkonstruktion in beliebiger Stärke integrieren. In Verbindung mit Keramik als Fassadenverkleidung ergibt sich somit ein robustes, dauerhaftes System. Die zweifach gebrannten Elemente sind nicht nur frost- und korrosionsbeständig. Durch die versiegelten Oberflächen sind sie besonders widerstandfähig und verlieren auch auf lange Sicht nichts von ihrem Glanz.

Mit dem Terrart-System gibt es auch eine standardisierte Aluminium-Unterkonstruktion für vorgehängte hinterlüftete Keramikfassaden. Das patentierte Montagesystem besteht aus lediglich 15 Einzelbauteilen und bietet somit ein Höchstmaß an Ausführungssicherheit. Trotz des hohen Standardisierungsgrades eignet es sich für jede klassische und moderne Wandkonstruktion. Mit Hilfe objektbezogener Sonderentwicklungen kann es nach Belieben erweitert werden. Eine spezielle, leichtere Ver­sion ermöglicht die Nachrüstung im Sanierungsfall, sodass es sich ebenso um eine aus­gezeichnete Alternative zu den gängigen Wärmedämm-Verbundsystemen handelt.

Fazit

Sicher wird eine auffällige, vollflächige Farbgebung bei Gebäudefassaden eher die Ausnahme bleiben und sich vorzugsweise bei Prestige- bzw. Landmark-Projekte etablieren. In diesem Kontext können außergewöhnliche Farben – neben einer exponierten Architektur sowie einer auf soziale Belange ausgelegten Verwendung – ganzen Stadtgebieten eine vollkommen neue Bedeutung verleihen. In der Alltagsarchitektur kommen Farben zumindest als Akzente immer häufiger zum Einsatz. Wie kaum eine andere Oberfläche verleihen glasierte Keramikelemente der Fassade eine abwechslungsreiche und lebendige Dynamik.

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