Vorhangfassadentechnik
Planung von Baukörperverformungen

Einführung

Fassadenkonstruktionen, einschließlich deren Verankerungen, Anschlüsse etc., müssen so ausgebildet werden, dass die anfallenden Rohbautoleranzen, Baukörperverformungen, thermisch bedingten Ausdehnungen und alle sonstigen Konstruktionsbewegungen aufgefangen werden und durch geeignete konstruk­-
tive Maßnahmen egalisiert werden können. In diesem Fachbeitrag wird auf die Problematik der rechtzeitigen, korrekten ingenieurmäßigen Umsetzung von Baukörperverformungen beim Entwurf der Fassadenkonzeption eingegangen, um Planungsfehler und resultierende Bauschäden durch den verantwortlichen Architekten oder Gesamtplaner zu vermeiden. Es gibt Fälle aus der Praxis, bei denen Rohbauverformungen vom verantwortlichen Gesamtplaner überhaupt nicht berücksichtigt bzw. geplant wurden und später dennoch glücklicherweise nur geringe oder sogar keine Verformungen auftraten oder der ausführende Fassadenbauer die Konstruktion schadensfrei umgesetzt hat.

Die planerische Ermittlung der später anfallenden tatsächlichen Verformungen eines Baukörpers gestaltet sich im Zuge der Tragwerksplanung oftmals als schwierige, jedoch zumindest annäherungsweise als lösbare ingenieurmäßige Aufgabe. Grundsätzlich ist zu
empfehlen, dass im Leistungsumfang der Tragwerksplanung die Ermittlung von detaillierten Prognosewerten nach Bauphasen explizit enthalten sein muss, da sonst nur überschlägige, ungenaue oder sogar unverbindliche Verformungsprognosewerte geliefert werden, was dann häufig zu großen Diskussionen führt und dem verantwortlichen Gesamtplaner bei der planerischen Konzeptlösung nicht weiterhilft.

Je nach Ausbildung des tragwerksplanerischen Konzeptes und Rechenmodelles können Rohbauverformungen relativ groß oder auch sehr gering sein. Anhand von verlässlichen Prognosewerten ist der Gesamtplaner in der Lage differenzierte Lösungskonzepte auszuarbeiten: z. B. können große Verformungswerte durch tragwerkplanerische Maßnahmen reduziert werden oder das Fassadenkonzept wird so ausgelegt, dass diese zwängungsfrei ausgeglichen werden können.

Werden kritische Verformungswerte jedoch nicht von Beginn an in der Vorentwurfsplanung und Konzeptionsfestlegung der grundsätzlichen Detailfestlegung einer Vorhangfassade berücksichtigt, können innerhalb der Fassadenkonstruktion durch fehlende Anordnung von Dehnstößen und Ausgleichsmaßnahmen unkontrollierte Verformungen, Glasschäden durch Einzwängungen, Undichtheiten und sonstige irreparable Mängel sowie große Bauschäden entstehen.

Solche grundsätzlichen Konstruktionsmängel können, wenn überhaupt, im Nachhinein nicht ohne weiteres beseitigt werden. Im schlimmsten Fall ist die Gebrauchstauglichkeit einer Fassadenkonstruktion nicht gegeben und die Fassade muss vollständig ausgetauscht werden.

Erfahrungsgemäß ist bei solchen Schadensfällen zwischen den Parteien ein großes juristisches Problem vorprogrammiert, da die tatsächliche Ursache auch von fachkompetenten Gutachtern im Nachhinein äußerst schwierig feststellbar ist und die baubeteilig­­ten Parteien wie Gesamtplaner, Fachplaner, Rohbau- und Fassadenbauunternehmen ­jeglichen Fehler/Mangel natürlich von sich weisen.

Deshalb ist der verantwortliche Architekt und Gesamtplaner gut beraten, Rohbauverformungen ingenieurmäßig umzusetzen, damit solche Probleme erst gar nicht entstehen können und eine durchgängige mangelfreie Planung zweifelsfrei nachweisbar ist.

Definition Vorhangfassade

Fassaden, welche vor dem Rohbau über mehrere Geschosse sowie Grundrissraster als einheitliche Konstruktionshülle durchlaufen, werden als Vorhangfassaden bezeichnet. In der Regel werden sie geschossweise hängend oder stehend im Los-/Festlagerprinzip an den Betondecken des Baukörpers befes­tigt. Nicht dazu zählen Lochfensterfassaden, Fenster- und Fassadenbänder in Kombina­tionen mit Kaltfassaden bzw. hinterlüfteten Fassaden (siehe Abb. 1)

Baukörperverformung nach Phasen

Baukörperverformungen oder auch Rohbauverformungen, wie z. B. Deckendurchbiegun­gen, entstehen durch folgende Einflussfaktoren in unterschiedlichen zeitlichen Phasen:

1. Eigengewicht Baukörper und Temperatureinflüsse > Entstehung nach dem Ausschalen bzw. mit Bauerstellung
2. Eigengewicht Fassade > Entstehung nach Fassadenmontage
3. Eigengewicht Innenausbau, Technik, Dach und sonstige bauliche Einrichtungen ­
> Entstehung mit Ausbau/Einbau
4. Kriechen, Schwinden und Setzungen des Baukörpers > Entstehung in einem größeren Zeitraum mit Bauerstellung bis 10 Jahre und mehr
5. Verkehrslasten der Nutzung, temporär/­variabel > Entstehung mit Nutzung

Maßgeblich bei der Festlegung einer Vor­hang­fassadenkonzeption sind die Verformungsphasen 2 – 5. Sofern die entstehenden Verformungen aus dem Eigengewicht der Fassade über justierbare Verankerungen nach der Fassadenmontage ausgeglichen werden können, sind nur noch die Verformungsphasen 3 – 5 bei der Fassadenplanung relevant (siehe Abb. 2 und 3)

Verformungsaufnahme bei Pfosten-Riegel- und Elementfassaden

Im Vorhangfassadenbau gibt es grundsätzlich zwei ausführbare Konstruktionsarten:

1. Pfosten-Riegel-Fassadensysteme
2. Elementfassadensysteme

Pfosten-Riegel-Fassadensysteme

können nur sehr geringe Bewegungen, ca. 1 – 2 mm aufnehmen, da diese standardmäßig ohne jegliche Stoß- bzw. Dehnfugen ausgeführt werden (siehe hierzu Abb. 4). Zusätzlich wird über die Anpressleisten (1) und die Verschraubung (2) ein linearer Anpressdruck zum Glas (8) erzeugt, wodurch eine Bewegungsaufnahme der Bauteile untereinander sehr eingeschränkt wird. Auch der sehr geringe Abstand Glas-Metall (9) von ca. 6 – 8 mm lässt nur geringen Bewegungsspielraum zu. Bei Architekten sind diese Konstruktionen beliebt, da schlanke, filigrane Profilansichtsbreiten ≥ 50 mm möglich sind.

Elementfassaden

können dagegen größere Bewegungen, bis max. 35 – 40 mm aufnehmen, da diese mit einem vertikalen und horizontalen Element-Dehnstoss ausgeführt werden (siehe hierzu Abb. 5). Die konstruktive Bewegungsaufnahme vertikal und horizontal zwischen den Fassadenelementen ist in der Visualisierung (Abb. 6) erkennbar. Auch die Fassadenverankerungen einer Elementfassade zum Baukörper müssen als statische Los-/Festlager konstruktiv in der Lage sein, die resultierenden Verformungen und Bewegungen zwängungsfrei aufzunehmen. Die Profilansichtsbreiten betragen je nach Größe der aufzunehmenden Bewegungen ≥ 65 mm. Je nach Fassadensystem gibt es bei der Bewegungsaufnahmemöglichkeit also große Unterschiede.

Daraus resultierend muss der Architekt/Gesamtplaner die Konsequenz ableiten, bei Vorhangfassaden in Pfosten-Riegel-Bauweise mit geschossweiser Vertikallasteinleitung zum Baukörper frühzeitig mit dem Tragwerksplaner sicherzustellen, dass nur geringe Rohbauverformungen planmäßig eintreten werden und aufgenommen werden können. Bei größeren Baukörper- und Deckenverformungswerten muss ein abgestimmtes Elementfassadensystem mit integrierten Dehnstößen geplant und eingesetzt werden.

Ausnahmen sind hierbei im Prinzip möglich, z. B. bei speziellen Vorhangfassaden wie Treppenhaus- oder Foyer-Fassaden, indem die gesamte Fassade statisch über mehrere Etagen hängend oder stehend geplant wird und an den Zwischengeschossdecken nur Horizontallasten über sogenannte Windpendelverankerungen eingeleitet werden.

Verformungsprognose

Bei der klassischen Vorhangfassade ist bei planmäßig auftretenden größeren und komplexen Rohbau- sowie Deckenverformungen die Erstellung einer bereichsweisen, detaillierten Verformungsprognose dringend zu empfehlen. Anhand eines Beispiels aus der Praxis (siehe Abb. 7) wird demonstriert, wie eine tabellarische Verformungsprognose nach Gebäudebereichen aussehen kann. Aus der Prognose lassen sich folgende Erkenntnisse ableiten

– große Deckenverformungen
– Spalte 6, fassadentechnisch aufzunehmende Bewegung max. 34 mm
– Pfosten-Riegel-Fassade nicht geeignet
– Ausführung: Elementfassade mit H-Stoß
40 mm.

Das daraus für diesen Fall entwickelte Fassadendetail ist in Abb. 8 ersichtlich.

Detaildarstellung Verformungsaufnahme

Anhand eines weiteren Beispiels (siehe Abb. 9) wird nachstehend die Verformungsaufnahme eines Objekts dargestellt, bei welchem durch die Fassade Verformungen durch Betondecken-Durchbiegungen von max. 15 mm aufgenommen werden müssen. Detailangaben Fassade und Verformungswerte

– Elementfassade hängend befestigt
– H-Stoß Nennmaß 20 mm (P1)
– Deckendurchbiegung 15 mm
– Veränderung durch Verformung
– P2 = 05 mm
– P3 = 35 mm
– Verformungskurve = Verteilung auf mehrere Elemente/Raster.

In der Visualisierung (Abb. 10) ist die vertikale Bewegungsaufnahme der Elementfassade bildlich dargestellt. Abb. 11 zeigt die vertikale Bewegungsaufnahme als Pfosten-Riegel-Fassade zum Vergleich.

Im oberen Geschoss würde die Fassade undicht werden, da diese durch den fehlenden Dehnstoss regelrecht auseinander gezogen wird. Im unteren Geschoss würden in der Fassade durch den fehlenden Dehnstoß zwischen Profilen und Gläsern Einzwängungen entstehen. In beiden Geschossen wären große Fassadenschäden die Folge.

Beispiel: Stahl-Pfosten-Riegel-Fassade

An diesem Objektbeispiel wird aufgezeigt wie eine ca. 30 m über mehrere Etagen verlaufende Treppenhaus-Vorhangfassade trotz großer Verformungen der Stahlbeton-Treppenpodeste als eine Pfosten-Riegelfassade realisiert werden konnte.

Die gesamte Pfosten-Riegel-Fassade wird an jedem vertikalen Stahl-Pfosten am oberen Punkt, (siehe hierzu Abb. 12) in ca. 30 m Höhe an einem stabilen Stahlbetonträger mit sehr geringen Verformungen an im Beton eingelegten Edelstahlankerplatten – als sogenannte hängende Konstruktion – befestigt. Die gesamten vertikalen Lasten werden an diesen Punkten in den Baukörper eingeleitet.

An den verformungsgefährdeten Beton­treppenhauspodesten (siehe Abb. 13 und 14) werden lediglich Horizontallasten über sogenannte Windpendelverankerungen einge­lei­tet. Die Verbindung zum jeweiligen vertikalen Pfosten erfolgt mit beweglichen Gleitlagerbuchsen aus Edelstahl, sodass alle vertikalen anfallenden Verformungen von der Fassade ohne jegliche Einzwängungen leicht aufgenommen werden können (siehe Abb. 15 und 16).

Schlussbetrachtung

Anhand der Fallbeispiele konnte aufgezeigt werden, wie sich Bauschäden an Vorhangfassaden verursacht durch Baukörperverformungen über eine abgestimmte Planung zwischen Gesamtplaner/Architekt, Tragwerksplaner und Fassadenplaner vermeiden lassen. Sowohl zwischen den Planern als auch in der Ausschreibung der Gewerke Rohbau und Fassade sollten für die planerisch zugrundeliegenden Baukörperverformungen eindeutige Prognosewerte vorgegeben und zwischen den Parteien schriftlich vereinbart werden. Hierbei sind bei der Festlegung des Fassadenentwurfes von Fall zu Fall angemessene Sicherheitszuschläge empfehlenswert.

Zusätzlich muss sichergestellt werden, dass sowohl die Rohbaufirma als auch der Fassadenbauer im Zuge der weiteren firmenspezifischen Ausführungs- und Werkplanung die geplanten Verformungswerte sowie Ausgleichsmaßnahmen eigenverantwortlich über den Tragwerksplaner nochmals abgestimmt und erforderlichenfalls angepasst werden.

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