Nachhaltige Gebäudekonzepte digital geplant­

Größer waren die Herausforderungen an das Bauen nie: Der gesamte Gebäudebestand muss klimaneutral werden, das Bauen selbst muss klimaneutral werden, und beides muss rasend schnell gehen. In nur gut zwei Jahrzehnten, bis 2045, soll die Transformation geschafft sein. Die gute Nachricht: Wir kennen die notwendigen Lösungen und mit der richtigen ­Mischung können wir erfolgreich sein.

Mit dem Ziel, den Energieverbrauch von Gebäuden massiv zu senken, wurden seit Mitte der 70er-Jahre neue Regelwerke, Konzepte und Technologien in die Bauwelt eingeführt. Unter dem Schlagwort der „Integralen Planung“ waren dies u. a. hochwärmegedämmte Fassaden, LED-Beleuchtung, effiziente Pumpen und Ventilatoren sowie Gebäudeautomationssysteme in Technikkonzepten. Die aktuellsten Entwicklungen sind die umfassende Nutzung der Dächer und Fassaden für die Stromerzeugung durch Photovoltaik und die Umstellung von einer fossilen Wärme­erzeugung auf elektrische Wärmepumpen und treibhausgasarme Fernwärme. Und siehe da: Mit diesem Werkzeugkasten sind wir technisch in der Lage, die notwendigen „nearly Zero Energy Gebäude“ zu errichten und vor allem den Bestand auf dieses Niveau zu sanieren.

Allerdings bleiben große Herausforderungen: Novellierungen und immer weitergehende Standards für den Neubau sind nahezu wirkungslos, weil der Hebel, die Klimaneutralität zu erreichen, in der Transformationsaufgabe Bestand liegt. Das Bauen selbst wird auch in Zukunft einen hohen Ressourceneinsatz erfordern, so dass der Einstieg in eine Kreislaufwirtschaft unausweichlich ist, um den Bedarf an Material, effizient eingesetzt und nachhaltig hergestellt, decken zu können. Vor diesem Hintergrund rückt die Sanierung in den Fokus. Abriss und Neubau dürfen nur die Ausnahme sein.

Von größerer Bedeutung als diese materiellen Themen werden jedoch unsere menschlichen und organisatorischen Ressourcen sein. Wir müssen besser und schneller planen, bauen bzw. sanieren und betreiben. Dazu ist es erforderlich, die vorhandenen Lösungen effektiver anzuwenden. Und genau hier brauchen wir einen Paradigmenwechsel: Als Folge der Integralen Planung ist das Bauen immer komplexer geworden. Heizung und Kühlung, oft aus mehreren Erzeugerarten, sind hydraulisch miteinander verknüpft und die Gebäudeautomation verbindet alle diese technischen Anlagen und zusätzlich den Sonnenschutz und die Einzelraumregelung miteinander. Damit das alles funktioniert, bauen wir mit Building Information Modeling digitale Zwillinge, die mittlerweile –nicht überraschend – genauso kompliziert sind wie die Gebäude selbst. Die entsprechenden energetischen Nachweisverfahren sind in gleicher Weise immer komplexer geworden und berechnen einen Energiebedarf mit vermeintlicher Genauigkeit auf Basis 1 000-seitiger Methoden. Und damit das alles dann läuft, brauchen wir ein umfassendes Inbetriebnahmemanagement, dass als Prozess bei komplexen Gebäuden auch schonmal ein Jahr und länger dauern kann.

Öffentliche Bauherren sind angesichts dieser Entwicklungen mittlerweile so verzweifelt, dass sie in einem Anflug von baukultureller Nostalgie mit dem Schlachtruf „Low Tech“ reagieren und das Rad der Innovation zurückdrehen wollen. Das ist sicherlich der falsche Weg; solche Diskussionen über High- oder Low Tech werden uns nicht helfen. Stattdessen sollten wir uns bewusst machen, dass wir uns nach 30 Jahren Integraler Planung von der Phase des Ausprobierens emanzipieren müssen. Die Lösungen liegen auf dem Tisch und Pilotprojekte haben das Potenzial zur Serie. Wir müssen sie jetzt nur noch effektiv und effizient einsetzen: Auf die richtige Mischung kommt es an.

Die richtige Mischung: Von der Integralen Planung zu modularisierten Standards

Um die vorhandenen technischen Lösungen jetzt schnell und erfolgreich anzuwenden, müssen wir an fünf Stellen die ausgetretenen Pfade unserer Bauprojekte verlassen und neue Wege gehen.

1. Technische Standardkonzepte

Als Integrale Konzepte noch neu waren, haben wir bei jedem Projekt das Rad neu erfunden, eine Vielzahl von konzeptionellen Lösungen simuliert und am Ende die optimierte Variante umgesetzt. Heute kennen wir für 80 % der Bauaufgaben den Werkzeugkasten: Wir wissen, wie ein Klassenraum gut beheizt und belüftet wird. Wir wissen, dass eine Gebäudehülle auf dem aktuellen Wärmeschutzniveau wirtschaftlich und zugleich effizient und energetisch sinnvoll realisiert werden kann (allein die Frage, ob KfW-40 oder -55 ist hier eine irrelevante Diskussion hinter dem Komma). Wir wissen, dass öffentliche Bürogebäude in Zukunft ausschließlich mit Fernwärme oder Wärmepumpen beheizt werden. Und das Dach wird extensiv begrünt und maximal mit PV belegt. Unser Pilotprojekt „Förderzentrum Schule auf der Bult“ in Hannover haben wir am Steinbeis Innovationszentrum siz energieplus auf Basis solcher standardisierten Module für Räume, Gebäudehülle und Anlagentechnik als Nearly Zero Energy Building umgesetzt. Im Forschungsprojekt „Starke Bauherren – Gute Gebäude“ überführen wir jetzt diese guten und erprobten technischen Standards in ein Handbuch für öffentliche Bauherren. Ein Paradigmenwechsel: Der Bauherr fragt nicht mehr seine Fachplaner, was die vermeintlich optimale Lösung ist, sondern bestellt, was funktioniert.

 

2. Modularisierte Anlagentechnik

Die Integrale Planung hat zu hochintegrierten technischen Anlagen geführt. Diese sind in Gebäuden als Unikate gebauter Infrastruktur in Planung, Bau und Betrieb sehr schwer zu beherrschen. In der Folge funktionieren viele Gebäude viel schlechter als theoretisch möglich. In der Forschung gibt es dafür mittlerweile den Begriff des „Performance Gaps“. Statt nun auf überkomplexe Konzepte mit nochmal aufwändigeren Automatisierungskonzepten zu reagieren, sollten wir Gebäude, durchaus in Analogie zu anderen Branchen, modularisiert konzipieren und Schnittstellen auf das notwendige Maß reduzieren. Damit wird nicht nur die Technik schlanker, sondern auch die Verantwortlichkeiten für einzelne Funktionen transparenter. Die erfolgreichen Konzepte zur seriellen Modernisierung im Wohnungsbau zeigen, welche Potenziale in der intelligenten Modularisierung liegen.

 

3. Daten

Die Digitalisierung hat auch die Baubranche erfasst. Viele Anlagen erzeugen heute umfassende und detaillierte Daten aus ihrem Betrieb. Damit können Hersteller erstmals verstehen, wie ihre Geräte in der Masse der Gebäude tatsächlich funk­tionieren und eingesetzt werden. Diese Chance müssen wir nutzen und die Modularisierung bis in die Cloud weiterführen. Jede Heizzentrale und jede Komponente braucht einen Internetanschluss. Hersteller müssen ihre Anlagen „mit Cloud-Anbindung“ liefern. Modulare Konzepte ermöglichen es, dass nur ein Minimum an unbedingt notwendige Schnittstellen im Gebäude verknüpft wird. Dies liegt im eigenen Interesse der Hersteller. Aber ebenso die Eigentümer- bzw. Nutzer:innen brauchen den direkten Zugriff auf ihre Daten. Klar abgegrenzte Anlagenfunktionen sind im Interesse der Bauherren, denn so vermeiden sie die enorme Abhängigkeit von dem einen Automationssystem, dass alles mit allem verknüpft und deshalb leider ­unersetzlich ist. Gleichzeitig lassen sich Anlagen besser prüfen und Ursachen für Mängel präziser zuordnen. Die nächste Generation der Gebäudeautomation ist modular und findet in der Cloud statt. Dort ermöglichen einfach zu handhabende Schnittstellen die Anwendung all der innovativen, KI-basierten, prädiktiven und präventiven Services, vom Technischen Monitoring bis zur Kopplung von Gebäude und E-Mobility-Ladeinfrastruktur. Zusätzlich wird das Potenzial erschlossen, den Transformationsprozess zur Klimaneutralität automatisiert zu verfolgen und die Einhaltung von Zielvorgaben zu dokumentieren.

 

4. Gebäude und Netze

Wir werden die Einhaltung aller klimapolitischen Ziele nicht ausschließlich auf Gebäude- oder Quartiersebene lösen können. Wirtschaftlich sinnvoll lassen sich Effizienzstandards in Neubau und Sanierung umsetzen und das ist auch ausreichend. Denn parallel dazu werden wir die Energieversorgung transformieren mit der entsprechenden Dekarbonisierung von Fernwärme- und Stromnetzen. Die THG-Emissionen des verbleibenden Energieverbrauchs werden durch den Prozess sukzessive reduziert, was bereits bei der ­Projektierung heute geplanter Maßnahmen Berücksichtigung finden muss. Auch ökologisch ist es von größter Bedeutung, die Proportion von Maßnahmen am Gebäude und im Netz richtig zu wählen. Der Versuch, den Energieverbrauch allein am Gebäude mit immer mehr Dämmung zu minimieren, geht unterhalb des schon bestehenden Anforderungsniveaus in der Ökobilanz nach hinten los. Wenn die energetische Amortisation im baulichen Wärmeschutz jenseits des Zeitfensters bis zur Erreichung der Klimaneutralität liegt, ist es nur noch Ressourcenverschwendung.

 

5. Förderung

Europa wird viel Geld in die Hand nehmen, um einen klimaneutralen Gebäudebestand zu erreichen. Mit der Bepreisung von THG-Emissionen und der EU-Taxonomie sind kraftvolle Mechanismen eingeführt worden, die die notwendigen Entwicklungen durch Marktkräfte und Regulatorik antreiben werden. Bei der Förderung von Baumaßnahmen sollte es eine entsprechende Fokussierung auf das Ergebnis geben. Ein erheblicher Anteil jeder Energieeffizienzförderung sollte deshalb von einer gemessenen Zielerreichung abhängig sein. Die technischen Voraussetzungen für messtechnische Bewertungen sind kostengünstig gegeben und für die Erreichung der Klimaschutzziele ist es irrelevant, ob der Mehrverbrauch durch eine fehlerhafte Planung, defekte Komponenten oder einen verschwenderische Nutzer:innen verursacht wird. Wichtig ist nicht, was theoretisch möglich ist, sondern dass es wirklich funktioniert.

 

Und jetzt? Machen!

Wir haben den Werkzeugkasten für einen klimaneutralen Gebäudebestand gut gefüllt. Wenn wir unsere Möglichkeiten richtig einsetzen, können wir die vorhandenen Lösungen schnell und erfolgreich skalieren. Wichtig ist, dass wir es auch tatsächlich machen. Dazu gehört es, einige alte Gewohnheiten über Bord zu werfen. Wir brauchen für eine Dreifeld-Sporthalle keine Variantenuntersuchung der Fachplanung. Es muss keine Energiebedarfsberechnung erstellt werden, um eine Grundschule optimal zu dämmen. Was wir brauchen, sind selbstbewusste Bauherren und Architekt:innen, die auf Basis der Erfahrungen aus den vergangenen 30 Jahren mit breiter Brust sagen: So machen wir das! Die hohe Datenverfügbarkeit ermöglicht uns gleichzeitig eine hohe Transparenz für eine erfolgsabhängige Förderung und eine weiterhin steile Lernkurve auf dem Weg zu einem klimaneutralen Gebäudebestand.

 

Steinbeis-Innovationszentrum siz energieplusDr. Ing. Stefan Plesser, Dipl. Ing. Architekt Thomas Wilkenwww.siz-energie-plus.de
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