Im Gleichgewicht

Wer Geschichte als Entwicklung versteht, dem gelingt es am ehesten noch, den Horizont der Erkenntnis weit offen zu halten. Ohne Überblick über das Historische bleibt der Forscherblick auf Ausschnitte fokussiert. Suche wird dann zur zweckmäßigen Forschung, die nur im Idealfall den weiten Horizont bewahrt; allerdings eher im Hinterkopf.

Um die Weite nun aus dem Hinterkopf aufs Papier zu bekommen, braucht es viel Raum. Karl-Eugen Kurrer, Bauingenieur, Chefredakteur und Privatgelehrter, hat sich viel Raum genommen, die (europäische) Geschichte der Baustatik aufzuschreiben. 2002 erschien sein Buch, nun liegt es um etwa das Doppelte erweitert erneut vor.

Wer kein Bauingenieur ist – und der Rezensent ist keiner – mag vielleicht zurückschrecken vor der Menge an Geschichten und Geschichtlichem, die üppig angereichert ist mit der Darstellung der wesentlichen Formeln und ihrer Theorien aus den vergangenen Jahrhunderten und bis in unsere Zeit. Doch Kurrer gelingt es, die Vielfältigkeit der Geschichte der Baustatik derart spannend aus dem Wust der historischen Überlieferungen herauszuarbeiten, dass auch der interessierte Laie versteht, wohin die Etappen der großen Reise gehen.

Die geht zu den Ursachen der Entwicklung verschiedener, aber meist aufeinander aufbauender Berechnungstheorien. Hier spielen kulturgeschichtliche Betrachtungen ebenso eine Rolle, wie das
Sezieren wesentlicher Schriften. Er beschreibt anschaulich einfach doch für den Ingenieurkollegen anspruchsvoll genug, wie sich Statik und Festigkeitslehre von Leonardo und Galilei bis zu den heutigen, modernen Protagonisten in Schrift und Experiment, in Theoriekritik und Theoriebildung verzweigt, verändert, entwickelt haben.

Dass er dabei in die Literatur (Kleist wird hier u. a. zentral zum Stichwort „Gleichgewicht“ genannt) wie auch die gedruckten Enzyklopädien eines Zedler oder die von Ersch und Gruber hinabsteigt, deutet an, dass sein Blick auf die Geschichte der Baustatik der eines universal gebildeten Gelehrten ist, eine Spezies, die man längst ausgestorben wähnte. Vielleicht ist es diese Autorenkondition, die die Plastizität der Schilderungen möglich macht, die Anschaulichkeit der Darstellung auch schwieriger Zusammenhänge, die Lebendigkeit, mit der die wesentlichen Akteure mit ihrem Bemühen um die Lösung bautechnischer Probleme zum Sprechen gebracht werden.

Dass die Bindung von Theorie an Persönlichkeiten dem Autoren wichtig ist, zeigen die 243 Kurzporträts der Protagonisten der Mechanik, Mathematik, des Maschinenbaus und der Baustatik. Eine überwältigend umfangreiche Bibliografie, ein Personenregister sowie ein stringent aufgebauter Inhalt, der sich in der Klarheit des Inhaltsverzeichnis widerspiegelt, machen die Arbeit zu dem Standardwerk, von dem aus schließlich jeder seinen Fokus auf das Thema entwickeln kann.

Für die 2. Auflage ergänzte der Autor sein Werk um die Stichworte: Erddrucktheorie, Traglastverfahren, historische Lehrbuchanalyse, Stahlbrückenbau, Schalentheorie, Computerstatik, Finite-Elemente-Methode, Computergestützte Graphostatik und Historische Technikwissenschaft. Be. K.

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