Fliegende Klassenzimmer
4th Gymnasium in Amsterdam

Wenn deutsche Schulen spontan Quartier beziehen, endet das meist mit schlichten Lernbehältern auf dem Schulhof. In Amsterdam ist ein ganzes Gymnasium temporär aus Raumzellen entstanden – ohne jede optische Spur dieser abholbereiten Container.

„Nur das Fundament und die Bodenbeläge gehen beim nächsten Einsatz der Module verloren“, erklärt Stijn de Jongh, Projektarchitekt und Teamleiter bei hvdn Architekten, seinem verdutzten Gegenüber bei der Besichtigung der Schule. Denn nirgends deuten verräterische Fugen oder containerenge Raumverhältnisse auf eine Entstehung dieses sympathischen Schulbaus aus Raumelementen hin, die in der Pflicht stehen, auf die Ladefläche eines Lkw und unter Brücken hindurch zu passen. Im Gegenteil, der dreigeschossige Schulbau lockt schon im äußeren Erscheinungsbild jeden Architektur-Interessierten mit einer sehr plastischen Fassadenstruktur und dynamisch variierten Farbreihen. Die zweimal lasierte Holzfassade kontrastiert in Materialität und Farbe sehr harmonisch mit den bunten Alublechen. Im letzten Geschoss deutet sich eine offene Terrasse an. Und sobald man den gebäudeumschlossenen, im Erdgeschoss nur punktuell geöffneten Hof betreten hat, will man fast am auch formal starren deutschen Schulwesen verzweifeln. Und dieser ganze Aufwand für ein gelungenes Gebäude nur, um das Ganze aufgeteilt in absehbarer Zeit wieder auf den Lkw zu verladen? Die Baukosten betragen bei etwa 4 000 m² Nutzfläche der Schule immerhin viereinhalb Millionen €, mit 1 150 € pro m² also kaum weniger als der günstigste soziale Wohnungsbau. Andererseits ist darin aber die Chance für Aufbruch und Veränderung eingeschlossen. Ein Gedanke, der im Schulbau für viel frischen Wind sorgen könnte.


Lernen am Strand

Die Erklärung ist so einfach wie ungewöhnlich. Das Gebiet des Amsterdamer Houthavens westlich des Hauptbahnhofs wird sich an dieser Stelle, vergleichbar der Hafen-Konversion östlich der Innenstadt, in wenigen Jahren dramatisch verändern. Anstelle der neuen Schule, eines großen Studentenwohnheims ebenfalls aus Raum-Containern und von hvdn Architekten errichtet, einer vorgelagerten Strandbar, einem Fitness-Studio, einer offenen Opern-Bühne, schwimmenden Künstlerateliers, dem Winterquartier eines kleinen Zirkus, Behelfsunterkünften von Asylbewerbern und allen anderen Überraschungen dieser Uferzone jenseits von Singelgracht und Westerkanaal wird sich hochwertiges Uferwohnen etablieren – weit hinaus ins Wasser ausgedehnt. Um die für ein Wohnen auf Dauer notwendige saubere Luft sicherzustellen, muss jedoch erst die Luftbelastung der westlich anschließenden Hafen- und Industriereviere zurückgefahren werden. Die größte Sorge der Stadtverwaltung bestand darin, dass das Gebiet in der Zwischenzeit mit den üblichen Zutaten Drogenhandel und Straßenstrich zu einer schwer kontrollierbaren gesellschaftlichen Randzone verkommen könnte. Aus der Raumnot der Schule und dem großen Bedarf an Studenten-Unterkünften entwickelte sich so eine Zwischenlösung, die nur mit fliegenden Bauten zu realisieren war. Das niederländische Baurecht schreibt dabei zwingend vor, temporäre Bauten nach nur fünf Jahren wieder zu entfernen, wobei in der Regel aber Anschlussgenehmigungen erteilt werden. Den Bewohnern des Studentenheims steht der Umzug nach insgesamt sieben Jahren kurz bevor. Die Container werden verladen und an anderem Standort in neuer städtebaulicher Formation nach den Vorgaben der Architekten wieder errichtet. Drei Monate wird die Demontage der Hofanlage dauern, sechs der Neuaufbau als Zeilenstruktur. Der gegenwärtige Status des Quartiers gibt der Strategie bei aller Kurzfristigkeit aber Recht. Die Gegend gilt als hip, die Schule erfreut sich allergrößter Beliebtheit. Mit dieser Resonanz wird der geplante dauerhafte Neubau der Schule in fünf bis zehn Jahren immer größer, aber auch immer attraktiver ausfallen müssen.


Fenster zum Hof

„Zehn Prozent unserer Tätigkeit beschäftigen sich mit temporären Bauten“, kalkuliert der Architekt, der für die Farbgebung und die Gestaltung des Innenhofs zuständig war. Mit Blick auf die technisch-konstruktiven Schnittstellen der Module und ihre architektonischen Möglichkeiten haben die Architekten mit diesem Pojekt einen gewaltigen Entwicklungsschritt vollzogen. Durch die umlaufenden weit verglasten Erschließungsflure auf jeder Etage wird der Schulhof zum Fokus der Anlage. Mit dem dritten Container-Bau der Architekten kann das System als ausgereift gelten.

Lagen die Toleranzen, die in der Fassade zu überspielen waren, beim Studentenwohnheim noch bei 5 cm, liegt die Präzision der Fugen bei der Schule bereits bei 1 cm maximaler Abweichung. Eine andere Schule, die als zweites Projekt der Entwicklungsreihe von hvdn am östlichsten Rand der Amsterdamer Hafen-Umnutzung auf Ijburg entstand, ist noch nicht demontierbar und damit an wechselnden Standorten zumindest mittelfristig nutzbar. Denn unbegrenzt funktioniert auch der Baukasten 4th Gymnasium nicht. 20 Jahre Haltbarkeit sind eingeplant, vor allem, weil die Belüftungstechnik mit flexiblen Gummiverbindungen von zwangsläufig begrenzter Lebensdauer ausgestattet ist. Diese begrenzte Lebensdauer eines Schulgebäudes sehen die Architekten mit Blick auf einen ähnlich schnellen Wechsel der pä­dagogischen Konzepte allerdings nicht unbedingt als Nachteil, sondern innerhalb des von deutschen Modalitäten stark abweichenden niederländischen Pragmatismus durchaus als Chance für einen Neubeginn. Bauherren sind die Schule und die Stadt. Zuletzt wird es wohl auch vom Bauunternehmer abhängen, wo und wie die modularen Elemente enden, die anders als die identischen Einheiten des Studentenheims an einem dunklen Mittelflur nicht universal einsetzbar sind. Am einfachsten wäre es, beim Neuaufbau die vertikale Struktur mit ihren vorhandenen Installationen beizubehalten. Prinzipiell könnte aus der innerhalb von zwei Monaten geplanten und in sechs Monaten errichteten Schule (der Rohbau stand innerhalb von drei Wochen!) aber auch ein Bürohaus werden, der Atmosphäre nach auch Altenwohnungen oder ein Hotel. Die Haus­technik wäre anspruchsvoller, der Schallschutz in der Dopplung von Betonboden und Holzdecke aber völlig ausreichend.


Vagabundierende Architektur

Funktionale Engpässe sind im Zusammenspiel der neun oder sechs Meter langen Module, die in ein Stahlgerüst einsortiert sind, nicht zu entdecken. Am besten verdeutlicht der Hofdurchgang die Systematik. Die Neun-Meter-Einheiten erstrecken sich über die normale Riegeltiefe – einschließlich Flur, aber ohne die nachträglich wie Rucksäcke angehängten Fluraufweitungen mit ihren Rückzugsnischen. Im Bereich des Hofdurchgangs addieren sich die Neun-Meter-Module mit den Sechs-Meter-Einheiten zur maximalen Transportlänge von 15 m. Die Treppen sind hollandtypisch steil, weil der Aufzug sonst die Dimension eines Sechs-Meter-Moduls gesprengt hätte. Die Standard-Klasse nimmt etwa 26 Schüler auf, ist grundsätzlich vom Flur aus einsehbar und profitiert so auch vom Blick in den herrlichen Hof.

Grundsätzlich hängt ein Beamer unter der Decke. Aula und Cafeteria strahlen wie der ganze Bau eher Ferienstimmung aus als Ordnung und Disziplin. Auch am späten Nachmittag noch nutzen etliche Schüler die angenehme Atmosphäre für ungestörte Hausaufgaben am Lehrerpult oder Austausch und Zusammenarbeit in der Gruppe. Keine Spur von Rasteritis, wie sie uns die modularen Errungenschaften vergangener Jahrzehnte noch beschert haben. Bauschutt wollten die Architekten nach Ablauf der ersten kurzen Nutzungsetappe auf keinen Fall zurücklassen. Aber werden sie beeinflussen können, was aus ihrer Idee später wird? Klaus Dieter Weiss, Minden

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