Dynamische Dämmung.
Der „Wohnzwilling“ zeigt, wie es geht

Längst sprechen viele vom Dämmwahn, selbst die Industrie hinterfragt schon einmal, ob das materialintensive Verpacken unserer (Wohn-)Häuser eine gute Lösung sei, um Energie und Emissionen zu sparen. Und ­tatsächlich gibt es alternative Lösungen, die nicht bloß einen Pullover und dicke Socken für das Wohnen in der Winterzeit vorschlagen, sondern – vergleichbar simpel – mit der Kybernetik Lösungen für zeitgemäßes Dämmen anbieten. Was man darunter versteht, hatten wir im vergangenen Heft der DBZ (04 | 2022, S. 12f.) im Gespräch mit einem Immobilienentwickler und dem Architekten zu klären versucht. Hier wollen wir das Ganze noch einmal technisch beleuchten.

Das „kybernetische Prinzip“ ist, abgeleitet aus dem großen Feld der Kybernetik insgesamt, die Behauptung von sich selbst steuernden, sich selbst regulierenden Systemen, seien sie mechanisch oder elektronisch, chemisch, biologisch, soziologisch oder sonst wie konstituiert. Günter Pfeifer, emeritierter Professor an der TU Darmstadt, hat das Kybernetische vor vielen Jahren schon zur Kybernetischen Architektur weitergedacht: hier werden uralte Prinzipien der Energiegewinnung/-erhaltung mit modernen Lowtech-Lösungen verbunden.

Neben wenigen gebauten Beispielen – und vielen, sehr vielen Ideen- und Konzeptskizzen, technischen Zeichnungen und einem kontinuierlich gewachsenem Vortragspensum – ist nach den von Günter Pfeifer entwickelten Prinzipien aber bisher noch kaum etwas so gebaut worden, dass man es als eine Art von Lackmustest bezeichnen könnte. Was auch das Team der RTW Architekten GmbH, Hannover, hier der Projektleiter Peter Teicher, schmerzhaft erfahren musste. Sie hatten gerade einen von der P & D Wohnkonzepte GmbH beauftragten Wohnbau über einen Wettbewerb (1. Preis) als Auftrag gewonnen und hatten hier mit der dynamischen Dämmung die Jury überzeugen können (im Wettbewerb waren WDVS-freie Lösungen gefordert worden). Was Unmut unter der Kollegenschaft erregte, mancher vergriff sich gar im Ton und attestierte dem Energiekonzept „Scharlatanerie“.

Der Investor hielt trotz Zweifeln am Projekt fest

Nun, der Investor hielt an der ungewöhnlichen, weil in dieser Größe noch nicht erprobten Dämmung fest; ein Risiko, das sich heute, ein gutes Jahr nach Fertigstellung des „Wohnzwilling“ auf dem Planungsgebiet Wolfsburg-Hellwinkel, als eine richtige Entscheidung herausstellte. Die evaluierten Kennwerte sprechen für sich, teils überraschen sie mit besseren Ergebnissen, als die Berechnungen zu Beginn erhoffen ließen.

Der „Wohnzwilling“ bildet zwei Mehrfamilienhäuser mit insgesamt 8 000 m² BGF, aufgeteilt auf jeweils 20 Eigentumswohnungen. Die Wohnflächen reichen von 68 bis 115 m² und verteilen sich auf zwei bis vier Zimmer. Jede Wohnung verfügt über einen großen Balkon. Alle Wohnungen richten sich nach Süden und Westen bzw. nach Süden und Osten aus. Auf diese Weise nutzen sie passive Wärmegewinne und gewährleisten tageslichthelle Räume. Alle Wohnungen sind über die zentrale Lobby barrierefrei zu erreichen. Die Baukosten liegen bei rund 15 Mio. € brutto.

Von außen betrachtet irritiert der Neubau durch seine Hülle aus Polycarbonatplatten. Je nach Tageslicht wirken die beiden Volumen mit den rotierend angebrachten Balkonen mal sehr kalt, dann wieder wie aufgelöst. Denkbar wäre es, die nur minimale Dämmung, die sich hinter der Kunststoffhülle befindet, einzufärben, damit käme bei einer Wiederholung dieser Dämmart Farbe und Abwechslung ins Spiel, nicht anders, als beim Spiel mit Putzoberflächen.

Für Peter Teicher waren, wie er sagt, die Denkansätze Pfeifers „dem Prinzip nach nachvollziehbar und eine Herausforderung: Ich bin den 1980er-Jahren an der TU Braunschweig architektonisch geprägt worden und hier bedeutete ökologisches Bauen ‚Bauen mit der Sonne‘“. In diese Zeit fällt auch die Kritik der Hightech-Bürobauten mit ihrer aufwendigen technischer Versorgung: Klima, Licht, Schall etc. Diese Haltung, bei der immer mehr Aufwand in die Erreichung immer höherer Anforderungen gesteckt wird, spiegelt sich nach Ansicht Teichers auch in dem Bestreben „immer mehr ‚Energie-Hightech‘ in Wohngebäude mit hochdichten Außenwandaufbauten und maschinellen Lüftungsanlagen zu integrieren“ - mit einem Komplexitätsgrad, der letztlich alle überfordert.

So verhält sich die dynamische Dämmung

Der Planungsprozess der Fassade war allerdings, so Teicher, nicht so einfach, wie es das Ergebnis suggeriert, insbesondere, weil man davon ausgegangen war, dass es bereits evaluierte Referenzprojekte gab, die es nur weiterzuentwickeln galt. Neben der Hülle spielte schnell auch das Bau­material eine Rolle. Der bei diesem Bautyp ­vorgeschlagene Wandaufbau mit Dämmziegeln funktioniert nicht mit Blick auf Schallschutz, Brandschutz und Tragfähigkeit, die Planer wählten Kalksandsteinmauerwerk. Für den erforderlichen Brandschutznachweis der Fassade konnte die BESAG aus Darmstadt unterstützen. Untersuchungen mit Originalbränden zum Brandverhalten vergleichbarer Fassadenkonstruktionen waren bereits durchgeführt worden.

Doch wie verhält sich die dynamische Dämmung? Kommt man mit ihr in den damals noch relevanten EnEV-Bereich? Ein Thema, das insbesondere wegen der Wohnungseigentümerkonzeption der Wohnhäuser eine zentrale Rolle spielte. Die Planer reichten ihre Unterlagen drei Bauphysikern zu thermodynamischen Simulationen ein. Am Ende konnte mit diesen festgestellt werden, dass sich die Fassade tatsächlich nach EnEV rechnen läßt. Das Ergebnis der letzten Simulation – durchgeführt von Transsolar Stuttgart – mündete in einer differenzierten Aufteilung der Fassade. „Der Erkenntnis, dass wir auf Produkte aus der Industrie zurückgreifen können, ging ein langer Prozess voraus“, so Peter Teicher.

Die Luftkollektorfassade

Die äußere, transluzente Hülle besteht aus Mehrschichtplatten aus Polycarbonat, Lichtbauplatten von der Firma Rodeca, die durch die Lufteinschlüsse in den einzelnen Kammern eine gute Dämmwirkung bei gleichzeitiger Transluzenz erreichen. Der Luftkollektor wird reguliert mit steuerbaren Strömungsöffnungen als Lamellenfenster (Coltlite Lamellenfenster System CLT) im Dachbereich und Zuluftöffnungen als Zuluftgitter aus der Industrie im Sockelbereich. Das Prinzip der dynamischen Dämmung ist einfach: Wenn die Klappen auf der Oberseite der Fassade geschlossen sind, bildet die stehende, solar erwärmte Luftsäule zusammen mit der Kunststoffhülle die Dämmung. Deren Leis-tung wird über ein Forschungsprojekt als Begleitforschung zur gesamten Quartiersentwicklung Hellwinkel Terrassen auf Baufeldebene von Prof. Dr.-Ing. Lars Kühl (Ostfalia Wolfenbüttel) untersucht, finanziert wird das Projekt aus Mitteln der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU/Osnabrück). Der Untersuchungszeitraum umfasst mindestens zwei Jahre. Gemessen wird über 48 in die Fassade integrierte Temperaturfühler je Haus. Erste Ergebnisse geben Aufschluss auf den positiven Einfluss der dynamischen Wärmedämmung auf den Heizwärmebedarf. Die für die transluzente Hülle verwendeten Mehrschichtplatten haben eine Stärke von 50 mm und einen U-Wert von 0,90 W/m²K. Am Tag wird durch Sonneneinstrahlung Wärmeenergie auf die Massivwand übertragen (gesammelt), die in die Speichermasse einfließt. Auch auf den nicht direkt besonnten Fassaden wird durch Diffusstrahlung Wärmeenergie auf die Massivwand übertragen. Durch die Eigenschaften der Polycarbonatplatten wird die Wärme in der Fassadenkonstruktion gehalten und verteilt, auch wenn z. B. bei Nacht keine Wärme von außen eingestrahlt wird.

Die Luftschicht im Luftkollektor kann bei Besonnung einen Temperaturunterschied zur Außentemperatur von 30 – 60 °C erzielen. Mittels temperaturabhängiger Steuerung der Lüftungsklappen wird bei Überwärmung gelüftet. Bei Diffusstrahlung in den Übergangszeiten und im Winter dient die erwärmte Luft zur zusätzlichen (dynamischen) Dämmung. Der Temperaturunterschied im Luftkollektor beträgt dann ca. + 10 °C zur Außentemperatur.

Inzwischen wurden folgende Energiekennwerte ermittelt: Der auf der Grundlage der Standardrandbedingungen nach DIN 18041 errechnete grundflächenbezogene Jahres-Primärenergie­bedarf beträgt 41,1 kWh/m²a. Der Heizwärmebedarf entsprechend der EnEV-Berechnung liegt bei 30,5 kWh/m²a.

Und wer nun denkt: „Plastikfassade!“, dem sei gesagt, dass Polycarbonat (chemisch in der Gruppe der Polyester) sich durch hohe Transparenz, Wärmebeständigkeit, Kratzfestigkeit und hohe Stabilität auszeichnet und zudem recyclingfähig ist. Das Material gilt sowohl in der Herstellung als auch in der Entsorgung als ökologisch unbedenklich. Auch: Die einzelnen Paneele der Fassade sind austauschbar, was sich durchaus als energetischer wie nachhaltiger Faktor herausstellen kann, jedenfalls im Vergleich zu Sanierungsarbeiten bei WDVS. Da es in der Fassade Bereiche in der Vertikalen zwischen den Balkonen oder bei über­einander angeordneten Fenstern gibt, die weniger oder gar nicht durchströmt werden können, wurde eine differenzierte Ausbildung des Wandaufbaus mit mineralischer Dämmung von 2 cm an der Ost-/Süd- bzw. Westfassade und 6 cm auf der Nordfassade vorgenommen.

Dass die Dämmung der Häuser mit der Wärmeversorgung zusammengedacht werden muss, erscheint klar, ist tatsächlich aber nicht die Regel. In Wolfsburg erfolgt die Temperierung der Innenräume über Fernwärme mit zentraler Hauptübergabe-station. Jede Wohneinheit erhält eine separate Wohnungsstation (Frischwasserstation), die das Warmwasser bereitet und die Fußbodenheizung speist. Zudem wurde der „Wohnzwilling“ lediglich mit minimaler Lüftungstechnik ausgestattet, um möglichst auf kostenintensive, wiederkehrende Wartungsarbeiten verzichten zu können.

Häuser unter einer Kunststoffhülle? Abgesehen von monolithischer Bauweise sind Kunststoffe eher der Regelfall in diesem Bereich: Dass hier aber ein Kunststoff mehr kann als nur dichten, kleben, dämmen, zeigt, dass die Richtung stimmt. Jetzt geht eigentlich nur noch die Umwandlung der Sonnenenergie – energiearm! – in Wasserstoff oder über leistungsfähige PV direkt in Strom. Oder weniger von allem und mehr Pullover! Be. K.

www.guenterpfeifer.de, www.transsolar.com, www.architekten-rtw.de
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