Ein Baldachin mit ­Sheddächern

Bahnhof Ostende/BE

Mit einem alles überspannenden Sheddach schaffen Dietmar Feichtinger Architectes und die beiden Ingenieurbüros Technum und Eurostation ein Dachtragwerk, das den neu strukturierten Bahnhof im belgischen Ostende mit allen Funktionen verbindet. 

Der Bahnhof des belgischen Seebads Ostende war für Reisende lange Zeit ein wichtiger Umsteigepunkt von der Bahn auf das Schiff nach England. Im Zuge eines großen städtebaulichen Masterplans für Ostende und dem Großprojekt „Station aan zee“, wurde der hochfrequentierte Bahnhof neu strukturiert. 2006 nahm das Architekturbüro Dietmar Feichtinger aus Montreuil an einem geladenen Wettbewerb teil und gewann. Während des Wettbewerbs arbeiteten die ArchitektInnen gemeinsam mit den IngeneurInnen von Technum an dem Entwurf einer nach allen Seiten offenen Halle. Technum übergab das Projekt anschließend an die IngenieurInnen von Eurostation. Eurostation ist ein Teil der Nationalen Gesellschaft der Belgischen Eisenbahnen NMBS-HOLDING, dem Bauherrn.

Das Ziel des Wettbewerbs war, den Bahnhof neu zu strukturieren und ihn zu einem zeitgemäßen Verkehrsknoten weiterzuentwickeln. Dietmar Feichtinger Architectes schlugen dafür eine Neuordnung aller Funktionen des Bahnhofs vor, zusammengefasst unter einem alles überspannenden Dachtragwerk. Unter dem Dach befinden sich nun die Bahnsteige, die Straßenbahnhaltestelle sowie Fahrradabstellplätze. Flankiert wird der Bahnhof im Norden von dem bestehenden Bahnhofsgebäude, im Osten von Wasser und im Südwesten von einem Parkhaus, das den direkten Zugang zu den Bahnsteigen erlaubt und Teil des Gesamtprojekts ist.

Dass die Bauarbeiten bereits im Jahr 2010 begannen, jedoch heute noch nicht insgesamt abgeschlossen sind, liegt vor allem an der Herausforderung, einen in Betrieb befindlichen Bahnhof umzubauen. „Den Betrieb aufrechtzuerhalten und den Bahnhof umzubauen, war eine besondere Herausforderung“, sagt Architekt Dietmar Feichtinger. Alle zwei Jahre konnte ein Abschnitt von insgesamt fünf geplanten Bauabschnitten überdacht und fertiggestellt werden.

Modulares Dachtragwerk

Um diese Herausforderung zu meistern, beschlossen die ArchitektInnen, ein ca. 15 x 15 m großes, modulares Tragwerk zu entwickeln, das in seiner Geometrie den Bahngleisen radial folgt. So wiederholen sich einzelne konstruktive Elemente und das statische Prinzip. Jedoch machte die leichte radiale Biegung keine serielle Herstellung wie beim Modulbau möglich.

„Wir wollten ein modulares Tragwerk. Was vielleicht auch ein Grund war, warum dieser Entwurf ausgesucht wurde, weil es in einzelnen Abschnitten leicht zu bauen ist“, sagt Dietmar Feichtinger. Denn das Tragwerk besteht aus: V-Stützen, einer Primärstruktur und einer nicht wahrnehmbaren Sekundärstruktur, auf der die Dacheindeckung aufliegt.

Vier Rundprofile aus Stahl werden zu V-förmigen Hauptstützen zusammengefasst. Das Zusammenführen der Rundrohre und das Gelenk am unteren Auflager spart Platz auf den ohnehin schmalen Bahnsteigen. Die V-Stützen sind am Fußpunkt gelenkig gelagert und in der Dachkonstruktion eingespannt. Durch die vier geschweißten Auflager am oberen Punkt stabilisiert sich das Tragwerk. Denn diese Punkte nehmen sowohl die Horizontal- als auch die Vertikalkräfte auf. Die Haupt- und Querträger sind doppelte IPE-Profile, in denen die ArchitektInnen die Versorgungsleitungen, Elektrik und die Entwässerung integriert haben. Die Dachkonstruktion dient jedoch nicht nur der Überdachung. Von ihr sind ebenso Erschließungselemente abgehängt: so der Verbindungssteg im Süden vom Parkhaus zu den Bahnsteigen. Der Verbindungssteg ist mit dem Parkhaus fest verbunden und nimmt temperaturbedingte Verformungen auf.

Transluzentes, farbiges Sheddach

Das 22 000 m² große Dachtragwerk ist als Sheddach ausgebildet. Das hat den Vorteil, dass in warmen Sommermonaten für ausreichend Luftzirkula­tion gesorgt ist. Die 22 000 m² unterteilten die ArchitektInnen zunächst in Quadrate. Querträger im Abstand von 5 m überspannen das Tragwerk für die Montage der Polycarbonatplatten, die auf diesen Querträgern montiert sind. Die 15 m langen, leicht geneigten Stegplatten sind transluzent und eingefärbt. Dietmar Feichtinger erklärt dazu: „Eigentlich arbeiten wir materialgerecht. Lassen das Material, wie es ist. Verändern nichts.“ Da Polycarbonat eben ursprünglich transluzent und farblos ist und die Einfärbung die Langlebigkeit des Materials erhöht, entschieden sich die ArchitektInnen für grüne, blaue und gelbe Polycarbonatelemente.

Alles unter einem Dach

Das Dachtragwerk verbindet nun unterschiedliche Funktionen. Der öffentliche Nahverkehr sowie Auto- und Fahrradparkplätze sind unter einem Dach vereint. Die Straßenbahnhaltestellen im Südwesten rücken näher an den Bahnhof heran, die 770 Fahrradstellplätze im Norden verschwinden eine Etage tiefer unter der Erde, wo sich nun auch die öffentlichen Toiletten und Kioske befinden – belichtet und belüftet durch runde, in den Boden eingelassene Öffnungen, die eben auch zur Erschließung dienen. Im Westen schließt das Parkhaus den Bahnhof ab, dessen südlicher Teil vollständig mit Photovoltaikmodulen bedeckt ist. Auch temporäre Büroräume können im Bahnhof angemietet werden. Die Co-Working-Spaces sind jedoch noch nicht bezogen.

Genauigkeit vom Entwurf bis hin zur Planung

Bemerkenswert ist die Genauigkeit, mit der Eurostation die Pläne von Dietmar Feichtinger Architectes umgesetzt hat. Denn obwohl Dietmar Feichtinger Architectes eine beschränkte, architektonische Bauleitung hatten, weicht das Gebaute nicht vom Entwurf ab. „Was wir gezeichnet haben, ist umgesetzt“, bestätigt Dietmar Feichtinger. Die IngenieurInnen von Eurostation haben den Entwurf planungsgetreu gebaut. „Was bei Ostende gut war, ist, dass die IngenieurInnen unsere Ideen unterstützt haben und versucht haben, uns zu begleiten“, sagt Dietmar Feichtinger über die Zusammenarbeit. Doch nicht nur diese Zusammenarbeit hat zum Gelingen des Projekts beigetragen. Eine starke politische Unterstützung sei dazu auch notwendig gewesen, sagt Dietmar Feichtinger. Und diese Unterstützung hätten sie im Bürgermeister von Ostende, Johan Vande Lanotte, durchaus gehabt. Nun steigen Fahrgäste in Ostende aus, an dem Bahnhof mit dem farbigen Dach und den Bahngleisen aus Holz. S.C.

Baudaten                                                      

Objekt: Bahnhof Ostende/BE

Standort: Natiënkaai 1, 8400 Oostende/BE

Typologie: Infrastruktur

BauherrIn: NMBS-HOLDING, Brüssel/BE

Tragwerksplanung:

(Wettbewerb): Technum, Gent/BE, www.gww-bouw.be/bedrijvenindex/technum/

(Ausführung): Eurostation, Brüssel/BE, www.eurostation.be

Architekur: Dietmar Feichtinger Architectes, Montreuil/FR,

www.feichtingerarchitectes.com

MitarbeiterInnen (Team): Claire Bodénez, Michael Felder, David Gregori y Ribes, Iwona Borkowska, Dorit Böhme, Marcus Himmel, Annalena Jost; 3D Visualisierung: Silviu Aldea

Bauzeit: 2010 – 2019

Fachplaner                              

Lichtplanung: Atelier Roland Jéol, Caluire-et-Cuire/BE

ELT-Planung: Verstraete Enterprises, Jabbeke/BE,

www.verstraete-ent.com

Projektdaten

Dachfläche: 22 000 m²             

Gesamtfläche Parkhaus: 20 320 m²

Parkhaus: 19 140 m²

Fahrradabstellplätze: 1 162 m²

Ladenfläche: 1 590 m²

Bürofläche: 100 m²

Baukosten gesamt: 37,7 Mio. €                       

HerstellerInnen:

Dachpaneele aus Polycabonat: Rodeca Systems BeLux BVBA,

www.rodeca.be

Stahlkonstruktion: Ferrokonstrukt NV, www.bcferro.be

Abdichtung: SOPREMA S.A.,

www.soprema.com/en

Die neuen Dächer am Bahnhof Ostende verbinden mit einer fast klassischen Stahlkonstruktion verschiedene Funktionsbereiche. Die Konstruktion überzeugt durch das Lichtspiel der transluzenten Eindeckung und den wiederkehrenden Einsatz weniger verschiedener Tragwerkselemente.« DBZ Heftpartnerin Agnes Weilandt, Bollinger + Grohmann 

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