„Ändere deine Sicht auf die Welt und du veränderst die Welt“

DBZ Heftpartner Christoph Hesse, Korbach/Berlin

Was man im glücklichen Fall im Leben realisiert, ist, nach Adorno, „nichts anderes als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen.“ Meine Kindheit und Jugend habe ich auf einem Bauernhof inmitten des Dorfs Referinghausen im Hochsauerland verbracht. Tatsächlich speisen sich die Vorstellungen, die mich bei der Entwicklung unserer Architektur- und Kulturprojekte leiten, maßgeblich aus den Quellen kindlicher Erfahrungen in der ländlichen Lebenswelt: Erfahrungen im unmittelbaren, fühlbaren Umgang mit der Natur und der füreinander einstehenden Arbeit des landwirtschaftlichen Lebens; Erfahrungen des regenerativen Denkens und Handelns im jahreszeitlichen Rhythmus von Aussaat und Ernte und des offenen Hauses, in dem jede und jeder, gleich welchen Milieus, jederzeit willkommen war.

  DBZ Heftpartner Christoph Hesse, Korbach/Berlin 
Foto: Christoph Hesse

DBZ Heftpartner Christoph Hesse, Korbach/Berlin 
Foto: Christoph Hesse

Im Einklang mit der Natur

Der Begriff „Landwirtschaft“ ist aus dem lateinischen Wort „Agrikultur“ abgeleitet. „Kultur“ heißt wörtlich „Pflege“ und bezeichnet ursprünglich die Tätigkeit des agricola, des Landmannes, die Nutzbarmachung der Natur für menschliche Zwecke durch bedachtsame Arbeit. Diese Vorstellung von Kultur trägt das Moment des Respekts und der Anverwandlung vor dem Eigenleben der Natur in sich. Kultur bedeutet somit immer auch eine Sphäre des Eingedenkens und des Innehaltens, der Besinnung des Menschen auf sich selbst und auf sein Verhältnis zur Welt als Ganzes. Und sie steht für ein mitmenschliches, kommunikatives Handeln, das nicht vom strategischen Interesse, sondern von der Achtung vor der Autonomie des Anderen getragen ist. In diesem gedanklichen Zusammenhang eines weiten Begriffs von Kultur sind unsere Bauwerke angesiedelt, und so nenne ich sie offene Orte der Kultur.

Kultur kann dabei ein regeneratives Landwirtschaftsprojekt wie den „Siebenhof“ bei Marburg, ein kreatives Gemeinschaftsprojekt wie die „Open Mind Places“ in Referinghausen, einen Dritten Ort wie das Besucherzentrum „Steine Wasser Licht“ am Edersee, aber auch den Bau einer ökologischen Inspirationsquelle wie die „Villa F“ in Titmaringhausen umfassen. Es sind allesamt Orte, an denen Visionen in Aktionen münden, die das ökologische und soziale Gleichgewicht zum Ziel haben.

Resonanz erleben

Mit diesen Orten versuchen wir auf eine Gesellschaft zu reagieren, die zunehmend von dem Gefühl der Vereinzelung geprägt und von der Gefahr der Empathielosigkeit bedroht ist. Die Menschen spüren, dass sie als Individuum mit ihren Bedürfnissen und Erwartungen nur noch die Rolle des Konsumenten und des Lieferanten von Daten spielen sollen. Der Verlust an Selbstwirksamkeit in gesellschaftlicher Teilhabe geht einher mit einer Verarmung der Fähigkeit zu lebendiger Erfahrung: Die fernste Ferne ist erreichbar und verfügbar, wird jedoch immer weniger als das bereichernde Andere erlebt. Die Welterfahrung wird unkörperlich und abstrakt, das Foto mit dem Smartphone verdrängt die sinnliche Wahrnehmung und die Fähigkeit, sich von etwas wahrhaft berühren zu lassen. Es schwindet das Erleben von Resonanz im gesellschaftlichen Raum, spiegelbildlich dazu schwindet das Erleben von Resonanz in der Begegnung mit der Welt um uns herum.

Das Oberholz ist einer von neun „Open Mind Places“ rund um Medebach-Referinghausen: Auf einer Unterkonstruktion aus sechs Betonstützen wurden Eichenschwellen zu einem Raum der Begegnung aufeinandergestapelt. Der Innenraum ist über eine kleine Brücke zugänglich und bietet Platz für bis zu sechs Personen. Die erhöhte Posi­tion erlaubt eine weite Aussicht über das Dorf und die Hügelkette im Süden mit der Heidenstraße
Foto: Christoph Hesse

Das Oberholz ist einer von neun „Open Mind Places“ rund um Medebach-Referinghausen: Auf einer Unterkonstruktion aus sechs Betonstützen wurden Eichenschwellen zu einem Raum der Begegnung aufeinandergestapelt. Der Innenraum ist über eine kleine Brücke zugänglich und bietet Platz für bis zu sechs Personen. Die erhöhte Posi­tion erlaubt eine weite Aussicht über das Dorf und die Hügelkette im Süden mit der Heidenstraße
Foto: Christoph Hesse

Für mehr Selbstwirksamkeit

Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Projekte unseres Teams als Katalysatoren einer Bewusstseinsveränderung einerseits und als reale Eingriffe in bestehende Strukturen andererseits. Wir unterteilen sie daher in „Perspektivwandler“ und „Systemwandler“.  Wir arbeiten überwiegend im ländlichen Raum des Sauerlandes und des Waldecker Landes in der grünen Mitte Deutschlands. Ferner „pflanzen“ wir von Zeit zu Zeit ländlich geprägte Projekte in den urbanen Kontext ­hinein, um den Dialog zwischen Land und Stadt zu fördern. Ziel dessen ist es, offene Orte der Kultur und Begegnung zu schaffen, bei denen die Benutzer aktiv in den Entwurfs- und Bauprozess einbezogen werden: Pflanze Selbstwirksamkeit und du erntest offene Orte der Kultur.

Perspektivwandler nennen wir jene Projekte, die die Sichtweisen der Menschen verändern und ihre Selbstwirksamkeit in der Gemeinschaft anregen sollen. So wurde beispielsweise das Kultur- und Umweltschutzprojekt „Open Mind Places“ mit der lokalen Bevölkerung rund um meinen Heimatort Referinghausen im Sauerland ins Leben gerufen. Elf Installationen aus lokalen und recycelten Materialien sind durch einen Fußweg miteinander verbunden und laden zum Austausch mit der Natur und anderen Menschen ein. An diesen Orten tritt man aus dem unmittelbaren Alltagsleben heraus und sieht die Welt von außen. Die hier erlebte Resonanz zwischen sich, anderen Menschen und der Umgebung führt im besten Fall zu einem Prozess glücklich machender Erfahrung von Selbstwirksamkeit – frei nach dem Motto: Ändere deine Sicht auf die Welt und du veränderst die Welt.

Das Projekt ist dynamisch und wird ständig weiterentwickelt. Im Rahmen der documenta fifteen in Kassel wurde es mit den Installationen „Reflecting Points“ in enger Zusammenarbeit mit dem BDA Kassel aufgegriffen und ausgebaut. Zwischenzeitlich wurden die dortigen Werke „Kohlemuseum“, „Karls­auge“, „Maria“ und „Kollektiv“ abgebaut und in die Open Mind Places im Sauerland integriert. Darüber hinaus wird in der Gemeinde Hillershausen im Waldecker Land derzeit die „Offene Bergkapelle“ als überreligiöser Gemeinschaftsort fertiggestellt und in der Hasenkammer bei Medebach die „Vier Elemente“ als Orte des gemeinsamen Handelns entwickelt. Ähnliche Qualitäten bietet auch das Besucherzentrum „Steine Wasser Licht“ am Edersee.

Als Systemwandler bezeichnen wir demgegenüber jene Projekte, die global vorherrschende Strukturen auf lokaler Ebene durchbrechen und verändern. So hat beispielsweise die „Villa F“ im Sauerland eine Gemeinde dazu inspiriert, sich ein umweltfreundliches und CO2-neutrales Nahwärmenetz zu bauen, um dadurch vollständig unabhängig vom globalen Energiemarkt zu werden.Eingespartes Geld wurde in öffentliche Gemeinschaftsprojekte investiert. Der ökologische und ökonomische Gewinn führte zur Erweiterung des Netzes in den Nachbarort Referinghausen. Die Energieunabhängigkeit wurde dort während der 750-Jahr-Jubiläumsfeier in Form des „Strohtherme Pavillons“ gefeiert. Ein Beispiel für die Verbindung zwischen Land und Stadt ist das „House of Knowledge“ in Xinyang, China. Es beherbergt eine Bibliothek, einen Ausstellungsbereich, Werkstätten und ein Teehaus. Besonders freuen wir uns über die Gemeinschaftsgärten, die auf beiden Seiten der Gebäude entstehen. Der partizipative Charakter des Projekts hat die Bauherren davon überzeugt, jungen und alten Menschen einen Ort zu ermöglichen, an dem die Prinzipien der regenerativen Landwirtschaft erlernt werden können.

 

Offene Orte der Kultur

Nicht zuletzt deswegen haben wir für diese Ausgabe Projekte ausgewählt, die als offene Orte der Kultur im ländlichen Raum bezeichnet werden können: Le Sémaphore an der französischen Atlantikküste, Huysmanhoeve im belgischen Ostflandern, Wraxall Yard im Süden Englands und das Besucherzentrum Edersee in Nordhessen.

Den Anfang macht das Projekt Le Sémaphore, das sich ca. 70 km südwestlich von Nantes im Zentrum von Le Perrier, einem kleinen Dorf in den Sumpfgebieten der Vendée nahe der Atlantikküste befindet. Auf atmosphärische und sinnliche Weise wird die lokale Bautradition hier zum Leuchten gebracht – und so den Besuchern des Touristen- und Kulturzentrums emblematisch vermittelt. Zwei traditionelle Langhäuser wurden behutsam renoviert und in der Mitte durch einen modernen, signalhaften Turmbau aus Binsen und Glas miteinander verbunden. Im linken Gebäudeteil befindet sich ein Empfangs- und Ausstellungsraum, im rechten ein Multifunktionsbereich für die Dorfgemeinschaft, der eng mit dem öffentlichen Hof hinter dem Gebäude verbunden ist und in der warmen Jahreszeit intensiv genutzt wird. Das Projekt dient dem Dorf als offener Ort der Kultur, der die lokale Identität selbstbewusst nach außen, insbesondere aber auch nach innen spiegelt.

Ein solcher Ort ist auch das Projekt in Huysmanhoeve. Der revitalisierte Wassergrabenhof befindet sich in Eeklo, einem Dorf in Ostflandern im nordwestlichen Belgien, auf halben Weg zwischen Gent und Brügge. Das Ensemble dient als offenes Re-gionalzentrum und beherbergt Kultur- und Schulungsräume. Es besteht aus zwei renovierten Bestands- und zwei Neubauten. In der Fachwerkscheune ist ein Gemeinschaftsbereich, im ehemaligen Kuhstall sind Mehrzweckräume untergebracht. Die beiden kleineren Neubauten setzen sich deutlich von den Bestandsgebäuden ab, nehmen jedoch deren Form und Proportion auf. Markant ist einer der beiden kleinen Neubauten, die „Hütte“. In der mit Klinkersteinen verkleideten Stahlrahmenkonstruktion ist die Hackschnitzel-Heizanlage des Hofes untergebracht. Der kaminartige Turm ragt symbolhaft in die Höhe und markiert die Transformation hin zur regionalen Selbstversorgung.

Das Projekt Wraxall Yard in Großbritannien überzeugt durch ein ebenso breites Kulturangebot: Der Hof liegt in der Grafschaft Dorset, ca. 2,5 Stunden südwestlich von London und 30 Minuten von der Küste des Ärmelkanals entfernt. Hier wurde ein ehemaliger Milchbauernhof in ein sozial- und ökologie­orientiertes Kultur- und Gemeinschaftszentrum umgebaut. Der rote Faden des Projekts: Menschen mit Behinderung, ältere und junge Menschen mit psychischen Gesundheits- und Suchtproblemen werden sensibel und in enger Verbundenheit mit der Natur in die dortige Gemeinschaft integriert. Neben Gäste­unterkünften, die sich um einen Innenhof gruppieren, befinden sich auf dem Gelände ein Gemeinschaftsraum, eine Werkstatt und ein pädagogischer Kleinbauernhof mit regenerativer Landwirtschaft. Konkret bedeutet dies, dass der Natur immer nur das entnommen wird, was sich auf zyklische Weise erneuert.

Auch das Besucherzentrum „Steine Wasser Licht“ ist ein solcher dritter Ort für Bildung, Kultur und Begegnung: Das Bauwerk befindet sich am Edersee, 45 Minuten westlich von Kassel im Waldecker Land in Nordhessen. Es bildet eine Verbindung zwischen dem zentralen Platz des Dorfes Edersee und der Sperrmauer, die mit ihrer wechselvollen Geschichte und den unmittelbar an den See angrenzenden UNESCO Nationalpark Kellerwald-Edersee von hoher gemeinschafts- und identitätsstiftender Bedeutung ist. Um dies zum Ausdruck zu bringen, entschied sich die Gemeinde, ein Besucherzentrum inklusive eines Museums zu bauen, das sowohl den Dorfbewohnern als auch den Menschen der Region als kulturelles Zentrum dient und gleichermaßen ein Anlaufpunkt für die zahlreichen Gäste ist. Die Konzeptidee des Entwurfs basiert auf dem symbolischen Herausschneiden eines Teilstücks aus der Sperrmauer. Der turmartige Neubau macht die kraftvolle Gestalt der Mauer und deren reiches Innenleben aus Stollen und Schächten spürbar. Im Foyer und im Untergeschoss wird durch eine immersive Lichtinstallation die lebendige Geschichte des Ortes gezeigt. Der Außenraum und das Erdgeschoss manifestierten sich als Ort der Gemeinschaft und des Wissens über regeneratives Denken und Handeln aus den Erfahrungen im Nationalpark. Auf diese Weise entsteht ein offener Ort der Kultur, der sich dem Gleichgewicht zwischen sozialem und ökologischem Klima verschrieben hat.

»Ziel unserer Arbeit ist es, offene Orte der Kultur und Begegnung zu schaffen, bei denen die Benutzer aktiv in den Entwurfs- und Bauprozess einbezogen werden.«
DBZ Heftpartner Christoph Hesse


«

Christoph Hesse wuchs im Sauerland auf und studierte Architektur an der ETH Zürich und der Harvard University. Er unterrichtete und forschte an der ETH Zürich, Harvard University, der Technischen Universität Darmstadt, der Ho Chi Minh City University of Architecture in Vietnam und der Cairo University in Ägypten. Im Jahr 2010 gründete er das Architekturbüro Christoph Hesse Architects mit Niederlassungen im nordhessischen Korbach und  Berlin. Hesses Arbeit umfasst Kultur- und Wohngebäude sowie urbane Mischnutzungs- und Museumsprojekte. Ferner verfügt er über eine breite Expertise zum Bauen im ländlichen Raum sowie zu nachhaltigen Bauweisen und energieautarken Gebäudetechnologien.

x

Thematisch passende Artikel:

Ausgabe 04/2024 Ort für Begegnung

Besucherzentrum Edersee, Edertal

Der Edersee nahe der nordhessischen Stadt Waldeck ist mit fast 200 Millionen Kubikmetern Fassungsvermögen der drittgrößte (bezogen auf die Wasseroberfläche sogar der zweitgrößte) Stausee in...

mehr
Ausgabe 04/2024

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

laut Statistik lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, wobei die Urbanisierungsrate in Deutschland sogar bei über 70 Prozent liegt. Zoomt man jedoch in die Regionen hinein, zeigt...

mehr
Ausgabe 10/2022 Wegweisender Holzbau

Gemeinschaftszentrum Casal Porta, Trinitat Vella/ES

Trinitat Vella liegt am nordöstlichen Rand der katalanischen Hauptstadt und gilt – eingefasst von Straßen und Autobahnen – seit jeher als Arbeiter- und Durchgangsviertel auf dem Weg ins Zentrum...

mehr

Gebaute Kultur

Ausstellung Neues Bauen in den Alpen vom 29. April bis 27. Mai 2009, Stuttgart

Seit 1992 wird in Sexten, einem kleinen Ferienort in den Südtiroler Dolomiten, in regelmäßigen Abständen der Architekturpreis „Neues Bauen in den Alpen“ verliehen. Für die Preisverleihung soll...

mehr

Identität stärken: Kultur & Bielefeld

Bielefeld sucht einen griffigen Slogan für das Stadtmarketing. In der Auswahl der Markenbausteine der Bielefelder Marketing GmbH sehen sich Kulturschaffende der Stadt nicht repräsentiert.

„Bielefeld – das gibt’s doch gar nicht“ hat ausgedient. Seit dem 800-jährigen Stadtjubiläum 2014, steht der Slogan, der die Stadt im Teutoburger Wald beschreibt, auf dem Prüfstand. Eine von der...

mehr