Über eine Leiche braucht man nicht mehr abzustimmen

Die Baden-Württemberger sollen über Stuttgart 21 entscheiden, doch da steht wahrscheinlich die Verfassung im Weg. Von Rüdiger Sinn, Stuttgart

Wurde vor drei Wochen der Wahlsieg von Rot-Grün in Baden-Württemberg noch von den Stuttgart 21 (S21)-Gegnern als historisch gefeiert und mit der Hoffnung nach einem wirklichen Wechsel – inklusive der Abkehr vom Projekt S21 – verbunden, kehrte schon nach wenigen Tagen der Koalitionsverhandlungen Ernüchterung ein. Diese drohten am Verhandlungspunkt S21 gar zu scheitern, obwohl das niemand öffentlich aussprach.

Es hätte so schön sein können: Die CDU verliert die Wahl, die SPD macht eine innerliche Wandlung durch, und alle, die sich vormals mit Verve für S21 ausgesprochen hatten, wären nun geläutert wie dereinst der Saulus zum Paulus. Selbst die Bahn rechnet noch mal nach und kommt darauf, dass der Tiefbahnhof nun doch 5,8 Mrd. Euro kostet – mindestens. Und Verkehrsminister Ramsauer verspricht den Stuttgartern zugleich einen neuen Kopfbahnhof mit einer Kapazitätssteigerung von 50 Prozent.

Es hätte so schön sein können …

Aber nichts davon: Zumindest die gewählten Delegierten der SPD im Land lehnen das Projekt nach wie vor mehrheitlich ab, Spitzenkandidat Nils Schmidt hatte aber vor der Wahl betont, dass er die Bürger Baden-Württembergs über das Projekt abstimmen lassen wolle. Mit diesem Eiertanz machte sich die SPD wenig Freunde und fuhr so das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte ein. Nicht Hüh und nicht Hott zeigte sich die SPD und viele Wähler verweigerten der Volkspartei mit schwindendem Wahlvolk ihre Stimme.

Die klare Ansage der Grünen war für viele dann doch ehrlicher. Zu ihrem "Stuttgart21-Nein" steht die Sonnenblumenpartei auch, aber sie hat im zukünftigen Landtag nicht die erforderliche Stimmenmehrheit, um das Projekt zu kippen. Also kommt nun der Volksentscheid und darauf einigten sich gestern die Koalitionäre in ihrem dritten Verhandlungsgespräch nach zähem Ringen.

Zäh deshalb, weil das Problem nicht grundsätzlich das Plebiszit ist, sondern die Baden-Württembergische Verfassung. Die legt die Hürden für eine Bürgerbeteiligung so hoch, dass auch bei einer mehrheitlichen Ablehnung im Land die Volksabstimmung am Quorum scheitern könnte. 33 Prozent der Wahlberechtigten müssten sich gegen das Projekt aussprechen, also rund 2,5 Mio. wahlberechtigte Menschen im Land. Diese Zahl ist hoch, zumal es die Bürger außerhalb Stuttgarts naturgemäß wenig interessiert, ob in Stuttgart ein Bahnhof gebaut wird oder nicht, auch wenn das erklärbar wäre.

Immerhin haben beide Parteien in einen sauren und einen süßen Apfel beißen können. Die Grünen haben der SPD in dem Kompromiss abgerungen, eine weitere Finanzierung des Landes auszuschließen, wenn die Sollbruchstelle von 4,5 Mrd. Euro bei den Baukosten erreicht wird. Zudem haben sie erreicht, dass nur noch über den Bahnhofsumbau abgestimmt wird und nicht über die Neubaustrecke. Die Grünen hingegen müssen sich damit abfinden, dass die Hürde für den Volksentscheid hoch liegt. SPD und Grüne wollen sich vor der Volksabstimmung, die im Herbst stattfinden soll, zwar noch mit der CDU auf eine Senkung des Quorums verständigen, das aber scheint bei der voraussichtlichen Blockadehaltung der CDU kaum zu funktionieren. Manchmal wird eben nicht vernünftig entschieden, sondern emotional: Selbst die CDU sprach sich vor der Wahl grundsätzlich für eine Verfassungsänderung zur Erleichterung von Bürgerbeteiligung aus. Und die CDU ist mit dem Projekt so sehr verschweißt wie die schwäbische Hausfrau mit der Kehrwoche, auch wenn in den letzten Wochen neuerlichen Kostenssteigerungen nach außen drangen und ein internes Papier der Bahn vor Kostensteigerungen warnte. Reflexartig lehnte deshalb der Fraktionsvorsitzende Peter Hauk die Forderung nach einer Senkung der Hürde ab. „Dafür gäbe es überhaupt keinen Anlass“, sagte er.

Immerhin: Die Bahn hat seit der Landtagswahl einen Baustopp verhängt, der bis zur Regierungsbildung andauern soll, die neue Regierung wird darauf drängen, dass der Baustopp bis zum Herbst eingehalten werden wird.

Bleibt noch der Stresstest. Der soll bis zum Sommer darüber Aufschluss geben, ob der neue Bahnhof überhaupt funktioniert. Scheitert der oder müsste man kostenintensiv nachbessern, dürfte das Projekt gestorben sein. Darauf hoffen die Gegner im Land. „Über eine Leiche braucht man dann nicht mehr abzustimmen“, sagt der zukünftige Grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann.

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