In Trümmern

Nordflügel des Bonatzbaus am Boden. Mit ihm geht auch der Projektsprecher

Der Nordflügel des Bonatzbaus des Stuttgarter Hauptbahnhofs ist Geschichte. In einer Nachtaktion fiel – von Hundertschaften der Polizei begleitet, die die Bauarbeiten vor Demonstrierenden abschirmten – der letzte Teil des denkmalgeschützten Seitenflügels. Das war vorauszusehen, der Zeitpunkt allerdings bestärkt Kritiker in ihrer Überzeugung, dass die Befürworter schnell Fakten schaffen wollen, um einen Volksentscheid über das Projekt womöglich ins Leere laufen zu lassen.

In der Nacht auf Freitag, 17. September 2010, um 0.30 Uhr, setzte sich schweres Gerät in Bewegung und der Bagger biss erneut kräftig zu. Begleitet von Protesten mehrerer hundert Demonstrierender, die über Alarmketten informiert wurden, fielen die letzten Mauern der Nordseite des Flügels. Der Zeitpunkt – nicht nur die nächtliche Uhrzeit – verwundert zum einen, zum anderen bestärkt er die Vermutungen: Erst tags zuvor griff sogar die Bundeskanzlerin höchstpersönlich in der Haushaltsdebatte des Bundestags von Berlin aus in das Geschehen ein und erteilte einem Volksentscheid über das Bahnprojekt eine klare Absage. Die Landtagswahl solle letztlich über das Für und Wider von Stuttgart 21 entscheiden. Eine andere Strategie verfolgt derzeit die SPD-Landtagsfraktion in BW. Zwar ist sie immer noch auf der Befürworterseite, aber sie setzt sich für einen Volksentscheid und einen sofortigen Baustopp ein. „Wir können nicht an den Menschen vorbeiregieren“, sagte der Landeschef Nils Schmid.

Wie Ernst diese politischen Aussagen gemeint sind oder ob die Parteien (vor allem die SPD) nur taktieren, darüber lässt sich – im Hinblick auf die nahende Landtagswahl im März 2011 – wild spekulieren. Das Milliarden schwere Bahnprojekt wird mehr und mehr zum Politikum und ist schon mehr als das Zünglein an der Waage. Es scheint – glaubt man den Prognosen –, dass die politische Landschaft in Baden-Württemberg im Frühjahr kräftig durchgeschüttelt wird. Umfrageergebnisse sehen die CDU mit schweren Verlusten nur noch bei 35 %, die FDP liegt abgeschlagen bei nicht einmal 5 %, die SPD käme auf 21 % und die Grünen verzeichnen mit 27 % gewaltige Gewinne und könnten so zusammen mit der SPD im Land regieren, möglicherweise sogar den Ministerpräsidenten stellen.

Welcher nun der glaubhaftere Weg ist – standhaft am Projekt festhalten und es durchziehen, wie die CDU, oder einen Volksentscheid fordern und damit scheinbar kippen (und damit womöglich einige Wähler wieder zu versöhnen, wie die SPD) – ist fraglich. Allein die Grünen, die von Beginn an gegen das Projekt waren, werden als Gewinner hervorgehen. Rückenwind bekommen sie am heutigen Tag auch von der Meldung, dass der Projektsprecher Wolfgang Drexler (SPD) zurücktritt. Er war bis dato zwar ein vehementer Verfechter des Umbaus, suchte aber mehr oder weniger als einziger öffentlich das Gespräch mit den Gegnern. Der Abgang Drexlers wird das Projekt Stuttgart 21 um ein Weiteres bröckeliger machen. Bedeutet das nun eine Wende, sogar schon vor der Landtagswahl?

Eines ist klar, die Projektbefürworter wollen möglichst rasch in die Bauphase einsteigen. Das ist mit dem Abriss des Nordflügels – wenngleich mit herben Zeitverlusten –zunächst einmal geglückt. Ob sich die Projektgegner die Bäume im nahen Schlosspark so einfach nehmen lassen, darauf darf man gespannt sein, die Stuttgart 21-Gegner prophezeien jedenfalls einen heißen Herbst. Diesen mit den nötigen Brennwerten zu versehen, dazu hat der überraschende Rücktritt Drexlers das Nötige beigetragen.

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