Ein Baustopp, der keiner ist, und die Forderung nach Auflösung des Landtags
Stuttgart 21-Verantwortliche reiten sich in Widersprüchen fest und machen Zugeständnisse, die eigentlich keine sind. Von Rüdiger Sinn, Stuttgart 22.01.2018Der Abriss des Südflügels und weitere Rodungen des Schlossparks werden ausgesetzt. Zudem initiieren die Gegner des Bauprojektes Stuttgart 21 nach den Ereignissen von letzter Woche, bei dem durch die Polizei mit großer Härte gegen Demonstrierende vorgegangen wurde, ein Volksbegehren, das die Auflösung des Baden-Württembergischen Landtages beantragt.
Nicht erst mit diesem Schritt ist Stuttgart 21 endgültig kein reines Bauprojekt mehr. Das so genannte Verkehrsinfrastrukturprojekt auf der Magistrale Paris-Budapest wird seit dem Sommer – mit dem Abriss des Nordflügels des Hauptbahnhofes – immer mehr zum Politikum. Denn es geht nicht nur um den Umbau eines Bahnhofes, sondern um die Zukunft des Landes im Südwesten der Republik und um eine Politik, die die Bürger versteht.
Von Letzerem konnte am Donnerstag der vergangenen Woche keine Rede mehr sein. Die Argumente waren ausgetauscht, die Fronten verhärtet, kein Baustopp in Sicht. Ein weiterer Artikel im Nachrichtenmagazin Stern belegte, dass es bei der Planung von S21 katastrophale Mängel gäbe; postwendend gab es reflexartige Dementi von Seiten der Projektpartner. Dann überschlugen sich die Ereignisse, und die Fernsehbilder, bei denen Polizisten mit zum Teil mit brachialer Gewalt gegen die Demonstrierenden vorstürmten, waren alles andere, aber keine Werbung für eine entgegenkommende Verhandlungsposition. „Krieg um Stuttgart“ lief bei der dpa über den Ticker, die Projektkritiker und -gegner waren und sind wütend. Offiziell ist von über 100 Verletzten die Rede, die Parkschützer gehen von weit mehr Verletzten aus.
Die größte Demonstration zog nach dem Polizeieinsatz tags darauf etwa 124000 von Hand gezählte Projektgegner an. Die Polizei sprach von 50000, die friedlich durch die Straßen Stuttgarts zogen. „Mappus raus“-Rufe waren zu hören und die Bürger skandierten „Baustopp jetzt“. Beeindrucken ließen sich die Projektbefürworter, allen voran Ministerpräsident Mappus und Bahnchef Grube davon nicht. Über das Wochenende wurden zwar die Pannen im Ablauf des Polizeieinsatzes klar – denn dieser wurde vorgezogen und damit zeitgleich mit einer Schülerdemonstration gelegt, die ihre Abschlusskundgebung im Schlossgarten nehmen sollte – zu politischen Konsequenzen dagegen kam es nicht. Ministerpräsident und Innenminister Rech verteidigten den Polizeieinsatz und auch die Härte der Vorgehensweise; die Gewalt sei zunächst von den Demonstranten ausgegangen (Stand 5. Oktober, 10 Uhr). Unterstützung bekamen sie von Bundeskanzlerin Merkel, die S21 – wie auch immer – ganz offensichtlich bundespolitisch instrumentalisieren möchte. So sollten doch die Demonstrierenden („Berufsdemonstranten“) friedlich bleiben, sagte Merkel. Wie das – in Anbetracht von hochgerüsteten Hundertschaften Polizei aus vielen Bundesländern – gelingen solle, davon sprach sie nicht. Trotzdem blieb es friedlich, Bürger aus der Mitte der Gesellschaft haben eben nichts mit linken Randalemachern zu tun.
In der "Bild am Sonntag" bezeichnete der Bahnchef Grube die Proteste gegen das umstrittene Bahn-Projekt "Stuttgart 21" als nicht gerechtfertigt. "Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht", schreibt er in einem Gastbeitrag. „Über dieses Recht bestimme immer noch das Grundgesetz und nicht der Bahn-Chef“, konterte Gangolf Stocker, einer der Initiatoren des Widerstands. Er fügte hinzu: "Das ist Demokratie aus Sicht eines Industriellen."
Die Proteste der „Wohlstandsverwöhnten“ (Baden-Württembergs Justizminister Ulrich Goll, FDP) gehen weiter. Am gestrigen Montag versammelten sich handgezählte 54300 Gegner im Schlosspark, die Polizei schätzte die Zahl und halbierte sie – so wie immer in der Vergangenheit – auf 25000. Schon zuvor initiierten die Parkschützer eine Unterschriftensammlung, um ein Volksbegehren zur Auflösung des Landtags einzubringen. Es sind 10000 Unterschriften nötig, um beim Innenministerium einen „Antrag auf Einleitung eines Volksbegehrens zur Auflösung des Landtags“ einzureichen.
Ein Hauch von Entgegenkommen signalisierte Verkehrsministerin Tanja Gönner am gestrigen Abend im Heute Journal. Es sollen in nächster Zeit keine Bäume mehr gefällt und der Südflügel erhalten werden. Doch was zunächst nach Entgegenkommen klingt, ist nicht anders als die Wiedergabe dessen, was ohnehin geplant ist: Weitere Arbeiten an den genannten Stellen sind, so Gönner drei Sätze später, ohnehin nicht nötig und auch gar nicht geplant.
Ein Moratorium sieht da wohl ganz anders aus. Und dann gibt es auch noch den Juchtenkäfer. Das Kommunikationsbüro des Projekts Stuttgart 21 hatte Befürchtungen zurückgewiesen, bei der angekündigten Fällung der Bäume im Schlossgarten werde gegen den Artenschutz verstoßen. Anlass ist das Vorkommen von Populationen des streng geschützten Juchtenkäfers (Osmoderma eremita), der insbesondere in alten Bäumen lebt und brütet und auch im Schlossgarten vorkommt: Sollte es zu Baumfällungen für den Bau des Tiefbahnhofs kommen, so das Büro, habe man den Schutz der seltenen Insektenart im Auge. Hatte man dann am Ende offenbar nicht, die Fällung der Bäume könnte auch hier ein Nachspiel haben.
Im März 2011 wird in Baden-Württemberg ein neuer Landtag gewählt. Wie die Wahl ausgeht, steht mittlerweile nicht mehr in den Sternen, ein Wahldesaster für die CDU wird inzwischen von (fast) niemandem mehr bezweifelt.