Tour de Force am Neckar
Wer Anfang Juni das Glück hatte, ein Ticket für das Symposium zu Ehren Frei Ottos 100. Geburtstag am ILEK in Stuttgart zu ergattern, konnte sich durchaus glücklich schätzen. Die bereits frühzeitig ausverkaufte und hochkarätig besetzte Veranstaltung widmete sich facettenreich dem Werk des großen Meisters und seinem unermüdlichen Schaffen zwischen Theorie und Praxis und in steter Nähe zu den Menschen. Über eine Tour de Force eines Lebens und den Versuch, dieses in zwei Tagen zu rekapitulieren.
Es gibt eigentlich nichts über den Jubilar des Symposiums „Frei Otto 100 – The Spirit of Lightweight Construction“ zu sagen, was nicht schon längst gesagt, geschrieben oder gesendet wäre. Frei Otto war, ist und bleibt einer der international größten Figuren der Architektur und des Ingenieurbaus der Nachkriegsgeschichte. Das Symposium, welches zu seinen Ehren am 5. und 6. Juni am ILEK (Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren) und in Kooperation mit dem ifag (Institut für Architekturgeschichte) der Universität Stuttgart stattfand, legte nochmals eindrucksvoll Zeugnis über das Werk des 2015 verstorbenen und posthum mit dem renommierten Pritzker-Preis geehrten Meisters ab. Die Gästeliste des Geburtstags-Symposiums las sich dementsprechend eindrücklich. Neben des Meisters Schülern und Weggefährten, die heute selbst international einen guten Ruf genießen, versammelten sich Freunde und Familie und gaben mitunter sehr persönliche Einblicke in das Zusammensein und die gemeinsame Arbeit mit Frei Otto.
Zusammen im Zelt
Thematisch waren die beiden Tage in vier Sessions gegliedert, die chronologisch vom Werdegang Ottos, speziell in der Rolle des Lehrers an verschiedenen Schulen, über das vererbte Werk bis hin zu den möglichen Auswirkungen auf die Leichtbaukonstruktion der Zukunft reichten. Man hätte es in diesem Sinne mit dem Veranstaltungsort kaum besser treffen können: den Mitte der 1960er-Jahre von Otto selbst entworfenen Institutsbau für leichte Flächentragwerke (IL) – liebevoll „Das Zelt“ genannt – am Universitätscampus in Stuttgart-Vaihingen. Die Intensität des Austauschs war nicht zuletzt der räumlichen Intimität dieses kleinen Bruders des deutschen Pavillons für die EXPO 1967 in Montreal und den folgenden Flächentragwerken in München für Olympia 1972 und den Tierpark Hellabrunn zu verdanken.
Erst die Erinnerung
Bereits zur Begrüßung verwies Werner Sobek, Schüler Ottos und sein Nachfolger in der Institutsleitung am ILEK, auf die Bedeutung seines Lehrers und Vorgängers für die interdisziplinäre wissenschaftliche Zusammenarbeit in Sachen Leichtbau an der Universität Stuttgart. Otto verfolgte hier einen holistischen Ansatz im Sinne Alexander von Humboldts, wie Sobek berichtete, und verband die polytechnische Lehre mit jener der schönen Künste, womit der „Spirit“ des Instituts und des Symposiums programmatisch umrissen wurde. Ein ob der illustren Runde sichtlich bewegter Rob Whitehead, Associate Professor der Iowa State University, untermauerte das Wirken Ottos als Lehrer seiner frühen Erfahrungen an amerikanischen Universitäten. Ausgehend von Ottos persönlichen Skizzenbüchern aus Studienzeiten zog Whitehead eine Verbindung von „case study after case study“ und deren jeweiliger Analyse und Vermessung der Modelle, bis zu den Resultaten der frühen Lehraufträge Ottos in den USA. Trotz der mitunter knappen Zeit gelang es Otto und seinen Studierenden dort innerhalb nur weniger Wochen großmaßstäbliche Leichtbaukonstruktionen zu entwerfen und zu bauen.
Diese Verve für den akademischen Austausch, die Otto offensichtlich inne lag, spiegelte sich auch in seiner Offenheit für die nachfolgenden Generationen wider. Nicht nur dass Otto bereits zu seinen eigenen Studienzeiten ungeniert und erfolgreich den Kontakt zu Koryphäen wie Mies van der Rohe oder Frank Lloyd Wright aufbaute, er selbst blieb stets offen für den Dialog. So berichtete Jan Knippers, Professor an der Universität Stuttgart für Tragkonstruktion und konstruktives Entwerfen, dass er nach seiner Berufung an die Universität im Jahr 2000 versuchte, Kontakt zu Otto aufzubauen, um von dessen Erfahrungen zu profitieren. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und so lud der damals bereits emeritierte Otto drei Tage später zu einem persönlichen Kennenlernen ein.
Dann der Ausblick
Nachdem der erste Tag des Symposiums von vielen persönlichen, fast sentimentalen Geschichten um Ottos Wirken geprägt war – Kai-Uwe Bletzinger bemühte dafür Bilder, die Otto als Gravitationspunkt inmitten seiner Schüler zeigten – stand der zweite Tag im Zeichen der Praxis und was diese von Otto lernen kann und sollte. Der als erster Redner angesetzte Mike Schlaich, Professor für Massivbau an der TU Berlin und Partner im Büro Schlaich Bergermann Partner, gab dafür direkt zu Beginn seines Vortrags das passende Picasso-Zitat vor: „Good artist copy, great artists steal.“ Was folgte war eine eindrückliche Werkschau eigener Projekte von Schlaich Bergermann Partner, gefolgt von Roland Bechmann zu den Projekten im Hause Werner Sobek und anschließend Mick Eeckhout zu seinem eigenen Werk. Allen gemein die oft schiere Größe und Komplexität der Bauwerke und der stete mögliche Rückschluss auf die Ideen Ottos. Maßstäblich etwas weniger überwältigend, dafür umso intelligenter und damit zukunftsträchtiger im Sinne des zum Ende des Symposiums angestrebten Ausblicks, gab Achim Menges, ebenfalls Professor an der Universität Stuttgart am Institute for Computational Design and Construction, eine These vor. „Fibreconstruction is the future“ lautete diese, was wiederum eine Nähe zu Ottos Werk herstellte, welches im Falle der vorab genannten Flächentragwerke in Montreal und München bekanntlich auf Seilkonstruktionen beruht, sozusagen einer Vorstufe zu jenen Faserkonstruktionen im Sinne Menges. Die darauf folgenden Arbeiten verwiesen dementsprechend auf ein Thema, das jedem Tragwerk, auch dem leichten, zu Grunde liegt: Material. Besonders eindrücklich ist hier der Beitrag von Jenny Sabin, Professorin am Cornell College of Architecture, Art and Planning in Ithaca/NY, zu nennen, die sich in Forschung und Praxis u.a. mit biosynthetischer Architektur befasst und die erfrischende These in den Raum stellte „Nature is resilient, not efficient“. Gezeigt wurden in diesem Sinne Konstruktionen die weniger auf repetitiven, digital anmutenden Großformen beruhen, sondern wesentlich organischer daherkommen.
Ähnlich im Maßstab und ebenfalls auf textilen Konstruktionen beruhend stellte Mariana Popescu, Assistant Professor für Digital Fabrication an der TU Delft, ihre Arbeit vor. Was hier zudem Anklang fand, war das Thema Wiederverwendbarkeit, im konkreten Falle einer textilen „Haut“ für einen Pavillon am Maxxi Museum in Rom. Auch wenn mit diesen abschließenden Positionen ein konstruktiver und gestalterischer Weg aufgezeigt wurde, der allein wegen der neuen Produktionsmöglichkeiten über das Werk von Frei Otto hinausweist, stellte Frau Popescu gleich zum Anfang ihrer Vorstellung klar, dass sie sich auf den Schultern der vorhergegangenen Meister wähnt und auf ihrem Werk aufbaut. Damit war Frei Otto inbegriffen.
Und darüber hinaus
Dass man auf den Schultern dieses Meisters stehen würde, um sein Werk weiter zu verfolgen, wurde an den beiden Tagen nicht nur einmal verlautet. Und die profunden Beiträge aus Akademia und Praxis machen Mut ob einer stringenten Weiterentwicklung in Sachen leichter Flächentragwerke. Eine über beide Tage allerdings vernachlässigte, wenn auch bereits früh angesprochene Frage, lag zur abschließenden Gesprächsrunde Andreas Hofer am Herzen, seinerseits künstlerischer Leiter der IBA 27 für die Stadtregion Stuttgart. Dieser warf eine Frage auf, die Nicole Razavi, Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen in Baden-Württemberg, bereits ganz am Anfang gestellt hatte. Die saloppe Formulierung Herrn Hofers lautete: „How can these tents become houses?” und zielte darauf ab, wie aus all diesen gesammelten brillanten Entwürfen und Ideen ein Kapital für den Wohnungsbau zu schlagen sein könnte. Der daraufhin aufkommende Diskurs belegte, wenn auch zuvor nicht weiter im Fokus der Veranstaltung, durchaus ein Bewusstsein um und Interesse an den Herausforderungen unserer Zeit. Es bleibt also eine Tour de Force und das ILEK, ganz im Sinne Frei Ottos, eines der Gravitationszentren der künftigen Entwicklungen. Hartmut Raendchen/DBZ