Offener Prozess – ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex
Manchmal ist es gut zu sehen, dass sich Unternehmen – allem Unken zum Trotz – immer wieder und immer noch für eine politische Sache einsetzen. So aktuell der Software Hersteller Graphisoft, der sich mit anderen nicht scheute, einem dezidiert linken Projekt in Chemnitz auf dem (Planungs)Weg technische Unterstützung zukommen zu lassen.
Solches Handeln, hier konkret die kostenlose Zurverfügungstellung von Planungssoftware, ist nicht mehr selbstverständlich. Das zeigen viele ebenfalls international agierende Unternehmen mit ihrem Rückzug aus Programmen wie „Citizens, Equality, Rights and Values“ (CERV) aus Angst vor politisch motivierter wirtschaftlicher Sanktion. Weniger nachvollziehbar ist die Sorge der politischen Verwaltung, hier etwas falsch zu machen.
So ist das, was Graphisoft für gut (und natürlich auch medienwirksam) erachtet, für die Politik offenbar nicht schmückend genug: Als das NSU-Dokumentationszentrum in einem ehemaligen Möbelladen in Chemnitz feierlich eröffnete und viele Bürger der Stadt gekommen waren, fehlte Oberbürgermeister Sven Schulze (SPD), der befürchtete, ein NSU-Dokumentationszentrum könne dem Image der Stadt schaden; einer Stadt, in der die Schlussstrichpartei AfD rund 30 Prozent Wählerinnenstimmen hat. Es fehlte auch der Ministerpräsident des Landes, Michael Kretschmer (CDU), der sich entschuldigen ließ: Er musste zeitgleich eine Bundesstraße einweihen.
Doch warum nun ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in einer Stadt, in der aus dem Ausland zugereiste, geflüchtete oder vertriebene Menschen ängstlich auf den Straßen unterwegs sein müssen? Weil in Chemnitz der sich selbst so titulierende rechte „Untergrund“ eine längere Zeit Unterschlupf gefunden hatte und von hier aus seine Anschläge plante und teils auch ausführte. Zehn Menschen, neun von ihnen wegen ihrer Herkunft und eine junge Polizeibeamtin im Dienst, wurden vom „Untergrund“ zwischen 2000 und 2007 ermordet, viele weitere leiden bis heute an körperlichen und seelischen Verletzungen. Und: Noch immer ist, trotz zahlreicher Untersuchungsausschüsse, Gerichts- und Ermittlungsverfahren nicht klar, ob und wie der „Untergrund“ mit bundesrepublikanischen Ermittlungsbehörden zusammengearbeitet hat. Immer noch gibt es verschlossene Akten, geschwärzte Protokolle, Nebellandschaften dort, wo eigentlich und von Rechts wegen Ermittlungen unter grellstem Licht durchzuführen wären.
Den offenen Dialog fördern
Zur Aufarbeitung der Verbrechen ruft das erste NSU-Dokumentationszentrum in Deutschland mit dem Angebot an umfassendes Erinnern auf. Es lässt Hinterbliebene zu Wort kommen, beleuchtet Fakten zu Ermittlungen, Ermittlungspannen und Gerichtsprozessen und gibt Raum für die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema NSU.
Der breit gefächerte Dialog, den die hinter dem Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex (dem ersten seiner Art in Deutschland) stehenden Vereine ASA-FF e. V., RAA Sachsen e. V. und Initiative Offene Gesellschaft e. V. gemeinsam mit und in der Stadt Chemnitz führen, spiegelt sich auch in der Ausstellungsarchitektur vor Ort wider: Betritt man vom Hauptzugang am historischen Johannisplatz das Zentrum, fällt sofort die Offenheit des zentralen, des eigentlichen Ausstellungsraums auf. Als Willkommen stehen hier ein Infotresen, verschiedene Tische, Stühle und Sitzgelegenheiten, die zum Innehalten, Ausruhen, Nachdenken und zum Austausch einladen. Von hier aus gelangt man barrierefrei in die Ausstellung mit verschiedenen Stationen und einem umfangreichen Bild-, Ton- und Aktenmaterial. Die teils bisher öffentlich noch nie gezeigten Inhalte und die große Menge detaillierter Informationen bewegen, ja zwingen die Gäste, sich lange und intensiv mit der Thematik zu befassen. Wer nicht weiterkommt, spezielle Fragen hat, dem stehen geschulte Mitarbeiterinnen sachkundig zur Seite.
Sichtbarkeit im Stadtraum wagen
Dass das Zentrum in einem ehemaligen Möbelgeschäft untergebracht ist, könnte man kritisieren. Die Stadt wollte oder konnte nicht und es musste auf das kleine Budget geschaut werden. Andererseits bietet das ehemalige Ladenlokal mit seiner großen Schaufensterfront beste Einsehbarkeit in alle Ausstellungsbereiche in einem szenenhaft ausgeleuchteten Raum, der sich damit auch in den angerenzenden Stadtraum erweitert: Wir sind hier, mitten in Chemnitz und trauen uns das auch!
Ein erfahrenes Projektteam aus Architektur, Szenografie, Innenarchitektur und Fachplanung schuf gemeinsam einen Ort, der jenen eine Sichtbarkeit verleiht, über die man viel zu wenig wusste: den Opfern sowie ihren Angehörigen und deren Kampf um Gerechtigkeit.
Dass Zusammenarbeit und Interdisziplinarität bei Entwurf, Planung und Realisierung des Projekts notwendig waren, zeigt der enge Zeitplan: Projektstart war am 1. November 2024, die Eröffnung bereits am 25. Mai 2025.
Noch ist nicht klar, ob das NSU-Dokumentationszentrum auch nach 2025 am Johannisplatz und in der Stadt Chemnitz bleibt. Unter anderem auch deshalb wurde konsequent kreislaufgerecht geplant und gebaut. Hohe Vorfertigung, Schraub- und Steckverbindungen, die sich leicht wieder trennen lassen, und Materialien, die einfach in den Wertstoffkreislauf zurückgegeben werden können, waren hierfür notwendig. Denn nur so lässt sich gewährleisten, dass die komplette Intervention innerhalb eines Monats wieder zurückgebaut werden kann, wenn nötig.
Vorfertigung, Kreislaufgedanke und interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordern nicht allein kluge Köpfe bei den Projektbeteiligten, sondern gleichzeitig die passenden Werkzeuge in Entwurf, Planung und Realisierung. Darum zögerte Graphisoft Deutschland nicht, als im Frühjahr 2024 die Anfrage der Projektarchitektin Esther Gerstenberg (für den Verein Initiative Offene Gesellschaft e. V.) eintraf, ob das Unternehmen für die Planung zwei kostenfreie Archicad-Lizenzen zur Verfügung stellen könne. So unterstützte das Unternehmen sowohl bei Studien und Vorentwürfen als auch bei der Erarbeitung der Grundlagen für die Ausstellungsdramaturgie und bei den darauffolgenden Ausschreibungen das Team.
Die dauerhafte Finanzierung solcher Projekte ist allerdings keineswegs gesichert, insbesondere Überlegungen aus Berlin, dem NSU-Komplex eine eigene Stiftung zu geben, machen das Chemnitz-Projekt wackelig. War noch während der letzten Ampel-Monate Berlin als Standort für eine solche Stiftung im Gerede, hat sich nun Nürnberg als Standort durchgesetzt, der Bund will hier finanzieren. Was das für Chemnitz bedeutet, ist noch nicht klar. Das Programm mit zahlreichen Veranstaltungen endet auf der Website erstmal Ende 2025. Zeit genug, um die Reise in die Europäische Kulturhauptstadt 2025 noch zu machen und der bereits jetzt schon guten Besucherinnenzahl noch Weitere hinzuzufügen. Und es wäre ein optimistisches Zeichen an die Chemnitzer Stadtoberen, Projekten dieser Art nicht misstrauisch gegenüber zu stehen, sondern sachlich wie engagiert und energisch zur Seite. So geht lebendige, diskursive Kulturhauptstadt, liebe SPD! ⇥Benedikt Kraft/DBZ
