Liebe Leserinnen und Leser,
früher trugen Außen- und Innenwände (massiv oder Fachwerk) Decken und Dach, das Tragwerk folgte strikt einer konstruktiven Logik und einer dem Ort zugewandten Ästhetik – und einem Erfahrungsschatz, den die Bauenden über
Jahrhunderte gesammelt hatten.
„Früher“ ist aber eigentlich auch heute, denn über alles Aufhängen und Balancieren hinaus ist das Tragende des Hauses immer noch die Wand, die schon mal auf Pfeilerstärke schrumpfen kann. Aber weil wir heute andere Ansprüche haben und weil das Anspruchsdenken der Vergangenheit zu fahrlässigem Verbrauch von Material führte und weil der Aspekt „Betongold“ – hier gerne auch „Holzgold“ etc. – das Bauen mehr und mehr in den Griff nimmt, wurde einerseits das infolge all dessen „verfettete“ Tragwerk wieder schlanker; durchaus unterstützt von Rechenprogrammen, die Erfahrungswerte als kläglich erscheinende Versuche und unzulässige Einschränkungen zu entlarven schienen.
Hätten wir – und wir haben – das Heftthema, zu dem wir uns mit Jan Mittelstädt und Florian Scheible von Schöne Neue Welt Ingenieure intensiv austauschten, hätten wir dieses Thema wie immer angeschaut, Sie würden die (vielleicht) erwarteten Brücken, die gigantischen Auskragungen oder extrem schlanken Hochhäuser vor Augen gehalten bekommen. Doch was zeigen wir? Forschungsbauten, die auf Naturfaser setzen, hybride Konstruktionen, die sich des Bestands bedienen, einfache, aber umso perfekter erscheinende Holzbauten und am Ende gar ein großes Gartenhaus, das so gar nicht zu dem Klischee vom innovativen Tragwerk passen will.
Was wir wollten? Tragwerke zeigen, die wieder dorthin zurückweisen, wo einmal die schiere Erfahrung das Bauen möglich machte. Tragwerke, die konziser Bestandteil der Konstruktion sind, Tragwerke, deren tragendes Potential ein noch nicht zuende gedachtes ist und die deshalb vom sofortigen Gebrauch bis hin zu einem zukünftigen reichen.
Höher, schneller, weiter… Tragwerksplanerinnen haben das längst als überkommene Benchmark erkannt und ersetzt durch ein kluges, weitsichtiges, rechnergestütztes, auch KI angewandtes Planen ersetzt. Neue Tragwerke sind reduziert, aber leistungsfähiger, sie sind kreislauffähig, sie sind ihrer Aufgabe angemessen dimensioniert und gefügt. Vor allem aber sind sie neu in dem fast schon paradox anmutenden Sinne, dass sie wieder die dienende Funktion, das Tragen übernehmen, ohne davon großes (Material-, Planungs-, Unterhalts- oder Entsorgungs-)Aufhebens zu machen.
Wir sind gespannt, wie Sie – ausgehend vom wirklich für die DBZ ungewöhnlichen und besonderen Titelmotiv – unsere Auswahl aufnehmen. Enttäuscht sollte niemand sein, denn was wir hier zeigen, ist der Startpunkt einer differenzierten Entwicklung, die die Fragen nicht nur des Tragwerks beantwortet, sondern gleich auch neue Fragen in den Raum stellt, – die wir alle zusammen beantworten werden.
Seien Sie herzlich gegrüßt, bleiben Sie beweglich,
Ihr
Benedikt Kraft