Gewinnerlektüre
Der Architekt und denkende, schreibende und lehrende Universalist Frei Otto (sein Vorname war der Mutter Programm!) wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden, Anlass für Veranstaltungen und Symposien und die Herausgabe dieses schönen Buchs. Instinktiv kam mit der Buchankündigung der Gedanke, es wäre doch gerade erst eine umfassende Monografie zu Frei Otto erschienen… Eine Täuschung, diese erschien bereits vor zwanzig Jahren (bei Birkhäuser). 2015 gab es eine Monografie zu ausgewählten Arbeiten, 2017 die eher theoretische Betrachtung der Arbeit Ottos im Denken mit Modellen.
Nun eine große Monografie mit wunderbar heterogenem Textmaterial, mittels dessen sich die Herausgeber daran versuchen, Frei Otto weniger als historischen, viel mehr als gegenwärtigen Protagonisten in der Diskussion um das (relevante) Bauen der Zukunft herauszustellen. So viel Otto war lange nicht, doch die Herausgeber begründen das nachvollziehbar damit, dass vieles von dem, was der Architekt selbst aus der Literatur zusammengetragen hat und häufig in angewandten Experimenten weiterdachte, heute so wichtig ist, wie damals vielleicht noch nicht.
Dass Frei Otto in Deutschland weniger wahrgenommen, ja auch weniger geschätzt wurde als im (westlichen) Ausland, hatte er auf dem Festakt zu seinem 85. Geburtstag bedauernd, ja resignierend geäußert. Dass sich das geändert hat, liegt an seinen Schülerinnen und denen, die ihn jetzt erst entdecken; denen ist der vorliegende Band dringlichst empfohlen. Er ist gegliedert in die drei Teile Projekte, Essays und Gespräche und er durchstöbert den Denk- und Werk-Kosmos Frei Ottos gründlich. Es gibt Biografisches, Politik, es gibt viele Blicke auf sein Experimentieren („ich traue der reinen Rechnung nicht“), auf seine Suche nach Ableitungen aus natürlichen Prozessen in die des Bauens. Der Begriff des „integrativen Umweltverständnisses“ wird ebenso aufgedröselt, wie sein Verständnis von einer Gesellschaft, die offen sein sollte, modern und beweglich. Auch eine Betrachtung des „anpassungsfähigen Bauens“ ist da, ein Thema, das er selbst kritisch und als nicht erreicht ansah.
Die unaufgeregt elegante Gestaltung (mit der wunderbaren ABC ROM Type von Seb McLauchlan!) wirkt kongenial zusammen mit den teils emotional aufgeladenen Beiträgen von Wegebegleitern, Schülerinnen und Bewunderern, sowie manche, selten gezeigte Fotos und Zeichnungen. Und wenn man sich etwas für die 2. Auflage wünscht, dann ein umfassenderes Literaturverzeichnis, das hier mit „ausgewählte Literatur“ zu wenig ist, wenn vorher das Allumfängliche probiert wurde! Dennoch: Eine äußerst gelungene Arbeit über einen Monomanen, einen Lehrer, der lieber Schüler wäre, einen Einmaligen, dessen Botschaften heute wieder gelesen, studiert, weitergedacht werden sollten. Wir können dabei nur gewinnen. Be. K.