Der Trick mit dem Knick

Bei der Sanierung der Hyparschale in Magdeburg kommt Carbonfaserbeton zum Einsatz – dadurch kann nicht nur die ursprüngliche Form denkmalgerecht stabilisiert, sondern zugleich auch ihre Belastbarkeit erhöht werden.

Text: Jan Ahrenberg/ DBZ

Zu Beginn der Sanierung in 2021 stand die Hyparschale Magdeburg bereits seit mehr als 20 Jahren leer
Foto: Marcus Bredt

Zu Beginn der Sanierung in 2021 stand die Hyparschale Magdeburg bereits seit mehr als 20 Jahren leer
Foto: Marcus Bredt


Ambitioniert, richtungsweisend, konsequent modern – der Bauingenieur und Bauunternehmer Ulrich Müther schuf mit seinen Schalendächern einen der wenigen Exportschlager der DDR. Seine freitragenden Konstruktionen verliehen dem gravitätischen Material eine neue, spielerische Leichtigkeit, die gerade zwischen den monotonen Quadern von Plattenbausiedlungen ins Auge fiel. Als er 1969 die Hyparschale in Magdeburg in Angriff nahm, hatte er bereits einige Erfahrung mit der Verarbeitung von Spritzbeton zu filigranen Schalendächern gesammelt: Mit der Messehalle „Bauwesen & Erdöl“ in Rostock-Schutow (1966) und dem „Teepott“ in Warnemünde (1968) hatte er den sperrigen Begriff der hyperbolischen Paraboloidschale in die Architektur eingeführt. Für eine griffigere Verwendung schrumpfte er diesen jedoch bald zur Hyparschale: Dabei handelt es sich um eine zweifache geknickte Fläche, mit der sich große, trägerfreie Spannweiten erzielen lassen und so auch stützenfreie Fensterflächen an der Fassade ermöglichen. Die Lasten werden dabei von Stahlbetonbändern, die an die tiefsten Punkte der Schale anschließen, in den Untergrund abgeleitet.

In Magdeburg führte Müther dieses Konstruktionsprinzip auf ein neues Niveau: Mit Außenmaßen von 48 x 48 m und einer Grundfläche von rund 2 300 m² ist die Ausstellungshalle heute der größte noch erhaltene Schalenbau Müthers. Aber es hätte nicht viel gefehlt und auch dieses Zeugnis ostdeutscher Baukunst wäre wie seine „Großgaststätte Ahornblatt, Berlin“ den Abrissbaggern zum Opfer gefallen – gleichfalls dem Denkmalschutz zum Trotz. Zwar wurde die Hyparschale bereits 1998 als erhaltenswert eingestuft, doch es folgten zwei Jahrzehnte der Debatten und des Streits mit privaten Investoren und Initiativen, bevor sich die Stadt entschloss, die Sanierung des inzwischen einsturzgefährdeten Bauwerks aus eigener Kraft unter Zuhilfenahme von Bundesmitteln zu stemmen. Auf den bis zu 15 m hohen Zinnen hatten zwischenzeitlich junge Birken ihr Wurzelwerk in den Beton gekrallt. 


Als grundsanierter Veranstaltungsort soll die Hyparschale künftig wieder Publikum in den Stadtpark Rotehorn zieht
Foto: Marcus Bredt

Als grundsanierter Veranstaltungsort soll die Hyparschale künftig wieder Publikum in den Stadtpark Rotehorn zieht
Foto: Marcus Bredt


Teerpappe statt Glasbausteinen

Nur 7cm stark ist diese Schutzhaut, und daher empfindlich gegenüber Umweltbelastungen und mechanischen Einflüssen. So mussten bereits kurz nach der Eröffnung die Glasbausteine, die an den Fügestellen der vier Dachsegel für Lichteinfall in die Tiefen des Raums sorgen sollten, mit Teerpappe verkleistert werden. Aufgrund der Belastungen durch die Dachkonstruktion waren sie undicht geworden. Der statische Balanceakt zwischen den vier je 24 x 24 m großen Hyparschalen war zwar grundsätzlich geglückt, aber nicht ohne Mängel. Entsprechend waren die Dachflächen, Diagonalstützen, Zugseilkanäle und die Stahlgerüste der Fassaden zu Beginn der Sanierung in 2019 in marodem Zustand. „Die Pläne für eine denkmalgerechte Sanierung des Bauwerks kamen erst so richtig in Schwung, als man anstelle mit konventionellem Spritzbeton mit Carbonfaserbeton plante“, sagt Christian Hellmund, Partner im Architekturbüro von Gerkan, Marg und Partner (gmp), das von der Stadt Magdeburg den Zuschlag für das Vorhaben erhielt. Nach einer Untersuchung des durchfeuchteten Betons, der von den rost­roten Flecken der korrodierenden Bewehrung gezeichnet war, schlug das Ingenieurbüro Prof. Rühle, Jentzsch und Partner in Zusammenarbeit mit der Carbocon GmbH ein Sanierungskonzept auf Basis von Carbonbeton vor. „Bei geringerem Gewicht ist er wesentlich belastbarer. Das ermöglichte es uns, große Teile der Originalsubstanz zu erhalten und zugleich eine bessere Dämmung und Stabilität zu erzielen.“ Nach den Vorgaben der Stadt sollte aus dem ehemaligen Lost Place ein vielfältig nutzbarer Veranstaltungsort werden, der neues Leben in den Elb-umflossenen Stadtpark Rotehorn zieht. Nach den Plänen von gmp erhielt die Fassade daher Klarglas anstelle der transluzenten Elemente, die das Tageslicht bislang diffus in den Innenraum streuten. Denn für das neue Raumkonzept braucht es noch mehr Transparenz: vier Raumeinheiten mit Grundflächen von 14,9 x 14,9 m, die auf Traufhöhe abschließen und deren Dächer begehbar und mit Brücken verbunden sind, sollen den Ort künftig für vielfältige Nutzungen erschließen. Ebenerdig ist so zwar kein freier Gesamtblick mehr auf die freitragende Deckenkonstruktion möglich. Dafür ist sie aber nun für unterschiedlich große Events gerüstet – und Nützlichkeit ist sicher ein wirksamerer Bestandsschutz, als es der Denkmalschutz jemals sein kann. 


Das Lichtband zwischen den vier einzelnen Betonschalen war bereits kurz nach der Eröffnung undicht geworden. Teerpappe löste das Problem, maskierte aber auch die ursprüngliche gestalterische Geste
Foto: Marcus Bredt

Das Lichtband zwischen den vier einzelnen Betonschalen war bereits kurz nach der Eröffnung undicht geworden. Teerpappe löste das Problem, maskierte aber auch die ursprüngliche gestalterische Geste
Foto: Marcus Bredt


Architektur mit Ablaufdatum

„Die vier Teilschalen der Deckenkonstruktion sind damals jeweils in einem Guss auf einer Tragschalung aus Holz betoniert worden“, sagt Christian Hellmund. Angesichts der damaligen technischen Ausstattung eine beeindruckende Leistung, die allerdings – wie bei Betonbauten oft der Fall – nicht für die Ewigkeit konstruiert war. „Zahlreiche Risse in den Schalen haben über die Jahre hinweg dazu geführt, dass die Bewehrung an vielen Stellen korrodierte und akute Einsturzgefahr bestand.“ Eine zusätzliche Last durch eine Überdeckung mit herkömmlichen Beton hätte daher auch zu statischen Problemen geführt, da die ebenfalls beschädigten Schrägstützen und Zugseilkanäle dann nicht nur saniert, sondern deutlich massiver hätten ausgeführt werden müssen; vom ruinierten Look-and-Feel einer von 7cm auf 14 cm angeschwollen Dachfläche ganz zu schweigen.

Bei dem jetzigen Verfahren bleibt die Gesamtstärke der Konstruktion dagegen, wie sie ist: Lediglich 1 cm auf der Unter- und 1 cm auf der Oberseite wurden benötigt, um der Konstruktion eine Doppelschicht hinzuzufügen, deren Tragfähigkeit eineinhalbfach so hoch ist, wie die einer 7 cm starken aus herkömmlichem Stahlbeton. Dazu frästen die Arbeiter:innen nach Sicherung und Abstützung der Teilelemente mit einem Höchstdruckstrahler entsprechend viel Material von den Dachschalen und verarzteten Stellen, bei denen zu viel Altbeton abplatzte, mit herkömmlichem Beton. Dann erfolgte der erste, 5 mm hohe Auftrag mit einem Fertigmörtel, der vor Ort vorbereitet wurde. In dieses Bett wurden die Carbonfasermatten nass verlegt, bevor sie mit einer weiteren, 5 mm Fertigmörtelschicht zugedeckt wurden. Aufgrund der guten Haftung des Mörtels gelang dies sogar über Kopf, also an den Unterseiten der Dachschalen.


gmp Architekten stellen die von Müther angelegte Transparenz nun mit Klargläsern wieder her
Foto: Marcus Bredt

gmp Architekten stellen die von Müther angelegte Transparenz nun mit Klargläsern wieder her
Foto: Marcus Bredt


„Obwohl das Verfahren noch nicht standardisiert ist, war es sehr leicht anwendbar und hat zu den erhofften Ergebnissen geführt,“ sagt Christian Hellmund von gmp. Gerade bei der Sanierung von Denkmälern zeige es seine Stärken, da es die Gestalt bewahrt und die Statik nicht vor neue Herausforderungen stelle. Entwickelt wurde es am Institut für Massivbau an der TU Dresden unter Federführung des Institutsleiters Manfred Curbach, der auch Gründungsgesellschafter der am Projekt beteiligten Carbocon GmbH ist. Bei der Hyparschale noch als Premiere und mit einer „Genehmigung im Einzelfall“ im Einsatz, soll das Verfahren künftig breite Anwendung im Markt finden. Bewährt es sich als Retter eines bedrohten Klassikers, stünde die Chancen dafür sicher nicht schlecht.

Neue Stabilität, neue Dämmung

Ganz ohne eine neue Abdeckung kommt aber auch das Hightech-Material nicht aus: Angesichts moderner Anforderungen an die Gebäudeeffizienz erhalten die Dachschalen eine neue, 15 bis
20 cm starke Gefälldämmung, die abschließend mit Dachbahnen überdeckt wird. Eher konventio­nell gestaltet sich auch die Sanierung der 60 x 
90 cm starken äußeren Stützen. Die Risse werden zunächst verdichtet. Anschließend wird eine neue Querbewehrung hinzugefügt, die mit Kopfplatten in Position gehalten wird. Eine Ummantelung stellt anschließend wieder ein einheitliches Gesamtbild her, die den Querschnitt der Stützten allerdings leicht erhöht.    

„Bei diesem Projekt lernen wir, alte Substanz in ihrer gestalterischen Geste zu schützen und sie gleichzeitig durch den Einsatz moderner Materialien für neue Aufgaben zu befähigen“, resümiert Christian Hellmund. Angesichts der vielfältigen Aufgaben im Nachkriegsbestand, der oftmals ganz ähnliche Verschleißerscheinungen zeigt, vielleicht auch ein Modell jenseits des Denkmalschutzes. Allerdings geht es derzeit noch um eine Abwägung im Einzelfall: Carbonbeton ist aktuell noch etwa 16-mal so teuer wie Stahlbeton; dafür aber auch 24-mal so leistungsfähig. Der sparsame Einsatz bei filigranen Konstruktionen scheint da aus heutiger Perspektive genau richtig.

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