Zwischen Bio und Blobb
MUMUTH, „Haus für Musik und
Musiktheater“, Graz/A

Ein Alien kommt selten allein. Der erste landete in Graz, Europäische Kulturhauptstadt 2003, in Gestalt des exzentrischen Kunsthauses des britischen Architekturblobisten Peter Cook. In diesen Tagen schwebte das „MUMUTH“ ein, das „Haus für Musik und Musiktheater“ der Grazer Kunstuniversität, ein Wolkenkissen aus Draht, Stahl und Glas, hineinappliziert in historisches Ambiente vom Amsterdamer UNstudio. Zur Eröffnung am 1. März wurde dem Premierenpublikum Mozarts „Zauberflöte“ aufgespielt.

Schalmeienklänge, um es zu besänftigen? Das ist kaum nötig. Die alte Festungsstadt, einst habsburgische Residenz, nun steirische Kapitale, ficht seit langem in der Vorhut zeitgenössischer Architektur. Mit ihrem experimentellen Individualismus machte die „Grazer Schule“ Furore sogar im eigenen Sprengel; das traditionsgesättigte Stadtgewand ist durchwirkt von modernen Bauten, Platzanlagen und Ensembles – Widerschein nonchalanter kakanischer Lebensart.

In diesem Kontext also wirkt nur auf den ersten Blick kühn, dass der bereits 1998 abgehaltene Wettbewerb vom eloquenten Schamanen Ben van Berkel gewonnen und ungeachtet jahrelanger Verzögerung endlich gebaut werden konnte. Gleichen erste Entwürfe in Zeichnung und Modell eher phantasmagorischen Projektionen als realisierbaren Architekturen, überzeugen die schließlich mutatis mutandis bezwingend entwickelten Baufiguren. Substrat ihres Architekturmanifests „Move“, worin van Berkel und seine Partnerin Caroline Bos über „Box versus Blob“ sinnieren und ihren Standpunkt verorten im schillernden Sowohl-Als-Auch.

Koordinaten, wie eigens geschaffen für das Grazer Kulturgehäuse. Angepaßt der umgebenden Bebauung, erheben sich auf rechtwinkligem Grundriss vier Etagen. Eingehüllt von einem käfiggleichen Drahtgeflecht, gibt sich das Bauwerk hinter dieser Burka kryptisch. Tags mehr noch als wenn es nachts aus vollen Fenstern feuert. Dann erscheint der auf der Grundfläche von 2800 m² doch recht kolossale Korpus beinahe entmaterialisiert hinter seinem von filigranen stählernen Graten gerasterten Schleiernetz – ein Kunstkniff aus dem Repertoire der Levitationisten. Unterstrichen vom Effet des Grundrisses, welcher die Baulinie an der südlichen Schmalseite des oblongen Rechtecks sacht verjüngt nach innen schwenkt. Der die feste Struktur umhüllende Schleier hingegen bläht sich von eben dieser Schmalseite an auf, um ab der Mitte parallele zweite Haut zu sein. Der horizontalen Wölbung korrespondiert eine vertikale: Dynamisch schwingt das Netzwerk von der Grund- bis zur Firstlinie bauchig auf, verstärkt somit die textile Anmutung der stählernen Korsettage; die Box mutiert mimetisch zum Blob.

Des fatamorganischen Palastes nüchterner Kern nämlich ist eine rechtwinklige Schuhschachtel, der Veranstaltungssaal mit bis zu 650 Plätzen für Theater, Konzerte, Opern. Abgesehen von der Abwesenheit von Anwesenheit und einem vom Architekten gestalteten (Akustik)-Wandrelief abstrahierter Notenchiffren, nichts aufregendes. Apostrophiert als „Black Box“, sollen keine seiner latenten Multifunktionen ablesbar, alles aus dem Verborgenen zu aktivieren sein. Der modulare Boden kann für jede erdenkliche Nutzung segmentweise hydraulisch organisiert werden zu Amphitheater-, Weinberg-, oder Konzertarrangement vor Guckkasten- oder saalmittiger Bühne. Die schlichte Raumform gebieten Anforderungen der Akustik, deren Nachhallzeiten und Frequenzen nicht durch raumentstellende Schallsegel moduliert werden, sondern von einer eigens entwickelten Elektronik, einquartiert im Schnürboden, einem High-Tech-Lab mit Myriaden von Kabeln und Schalt-Aggregaten, Computern, Beleuchtungs-Batterien, Projektoren und Seilzügen. In dieses Herz des Hauses gelangen die Besucher nach einem kapriziösen Defilee d’architecture: Aus bedrückend niedrigem Entree führt eine banale Treppe in die erste Etage. Und die verdient das Attribut Bel – angesichts eines bühnenreifen Arrangements des Foyers und seiner Elemente. Mit theatralischem Drall dreht sich eine Treppe hinauf ins Emporengeschoss, ihre handlaufhohen Wangen außen silbermetallspiegelnd, innen und auf den Stufen theatervorhangrot – feingliedrige Metallstützen lagern sie auf einer Sichtbetonspindel. Aus dem gleichen Material umspielt die Mimikry einer Vorhangattrappe den Saaleingang – Inszenierung vor dem eigentlichen Spiel.

Die Spindel, Twist nennt sie der Baumeister, ist die architektonische Hauptdarstellerin. Positioniert im ersten Gebäudedrittel, ist sie tragendes Element der Konstruktion; von ihr streben die Geschoßebenen weg, deren Lasten sie aufnimmt und abführt. Der Sichtbeton handschmeichelnd verarbeitet, gleicht diese skulpturale Lastenträgerin dem überdimensionalen Stamm einer gewundenen Liane, die sich elegant vom Grund bis zum Dach durchs Haus zieht. Abgesehen von der technologischen Herausforderung, die gesamte Struktur aus diesem biomorphen Strunk „wachsen“ zu lassen – selbstverdichtender Beton mußte hierzu in einem der Schwerkraft hohnsprechenden Verfahren von unten nach oben gepumpt werden – kaum sinnfälliger als von dieser kühnen Konstruktion ließe sich die integrative Potenz von „Blob zu Box“ illustrieren, die Versöhnung verbissen widerstreitender Positionen zeitgenössischen Bauens. Werner Jacob, Bad Krotzingen

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