Absolute World Towers, Mississauga/CA

Verdrehte Welt
Absolute World Towers, Mississauga/CA

Seit 2012 bereichern zwei organisch geschwungene Wohntürme die Skyline im kanadischen Mississauga. Umlaufende Balkone wickeln sich um die Etagen und eröffnen den Bewohnern atemberaubende Rundblicke. Die Decken rotieren pro Geschoss um ein bis acht Grad. Ein genial einfaches Tragwerk ermöglicht die
gebaute Pirouette.

Mississauga westlich von Toronto hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer unabhäng-igen Stadtregion entwickelt. Mit 713 000 Einwohnern ist der rasch wachsende Vorort inzwischen die sechstgrößte Stadt Kanadas.
Ihm fehlten jedoch bislang identitätsstiftende Gebäude: Gewöhnliche „Kisten“ prägten
die Stadtkulisse. Seit 2012 haben die Einheimischen ein architektonisches Wahrzeichen, auf das sie stolz sind und das ihre Phantasie beflügelt: „Marilyn Monroe Towers“ nennen sie die beiden 50- bzw. 56-geschossigen Wohntürme am Stadteingang – wegen ihrer schwungvollen Kurven.

Statt der uniformen Vorortkulisse einen weiteren Kasten hinzuzufügen, ließen sich die Architekten Ma Yansong, Yosuke Hayano und Dang Qun vom Büro MAD Architects in Beijing von geschwungenen Linien aus der Natur inspirieren. Durchgängige Balkone mit Glasbrüstungen wickeln sich um die Etagen der Wohntürme und eröffnen den Bewohnern atemberaubende Rundblicke auf Toronto und Mississauga. Die ellipsoiden Deckenplatten sind pro Stockwerk jeweils um mehrere Grade versetzt. So entsteht der Eindruck, als würden sich die Hochhäuser um die eigene Achse drehen: Mancher sieht in ihnen ein Tanzpaar beim Twist, andere erkennen jong-lierende Teller oder kreisende Hulla Hoop-Ringe. Je nach Blickwinkel verändert sich
die Form der rotierenden Türme.

Die „Absolute World Towers“, so der offi­zielle Name der 161 m bzw. 179 m hohen Wohnhäuser, sind der letzte Baustein eines Komplexes, der aus insgesamt fünf Hochhäusern mit 1850 Wohnungen, Läden und einem 3-geschossigen Wellness-Bereich besteht. Am Kreuzungspunkt der beiden Hauptstraßen Hurontario Street und Burnham-thorpe Road gelegen, fungieren sie als neues Wahrzeichen und Eingangstor zum Stadtzentrum.

Türme mit Hüftschwung

„Wir wollten dem Stadtbild einen Impuls geben und der Umgebung aus gewöhnlichen Kisten etwas Naturalistisches, Feinfühliges, Humanes hinzufügen “, sagt Ma Yansong. Mit seinem kurvenreichen Entwurf für den höheren der beiden Türme setzten sich der junge Chinese und seine Büropartner 2006 bei einem internationalen Architekturwettbewerb gegen 91 Mitbewerber aus 70 Nationen durch.

Der „tanzende Turm“ gefiel den Käufern so gut, dass die 428 Wohnungen schon wenige Tage nach der Präsentation verkauft waren. Der Bauherr beauftragte die Architekten deshalb mit einem zweiten, 50-stöckigen Wohnturm für weitere 433 Wohneinheiten. Insgesamt gibt es in beiden Türmen 26 verschiedene Wohnungstypen: vom 50 m² großen Zwei-Zimmer-Appartement bis zur 162 m²-Penthouse-Wohnung in den obersten Geschossen.

Auch wenn die beiden Hochhäuser durch ihre Form wie Geschwister erscheinen, unterscheiden sie sich bei genauerem Hinsehen: Die Betonellipsen des höheren Turms drehen sich pro Stockwerk um ein bis acht Grad – mit geringer Rotation an Kopf und Fuß und dem maximalen „Hüftschwung“ in der Mitte. Der niedrigere Turm schraubt sich dagegen gleichmäßig in die Höhe: Die Geschosse sind jeweils um vier Grad versetzt. Insgesamt drehen sich die Hochhäuser über alle Etagen hinweg beide um etwa 200 Grad.

Ihre umlaufenden Balkone stellen einen erfrischenden Kontrast zur üblichen, von vertikalen Linien dominierten Wolkenkratzer-Architektur dar. Sie verdeutlichen auf den ersten Blick, dass es sich um ein Wohnhaus handelt. Die Balkone prägen jedoch nicht nur das Erscheinungsbild, sie fördern auch die Gemeinschaft innerhalb der Wohnetagen:
Die Bewohner stellen Stühle raus, treffen sich, genießen den spektakulären 360-Grad-Rundumblick über die Stadt. „Das Gebäude soll die Lust der Großstädter auf Natur, Sonne und Wind wecken“, sagt Ma Yansong. Gleichzeitig spenden die auskragenden Balkonplatten im Sommer Schatten und speichern im Winter Wärme – eine Low-Tech-Lösung, um die Kosten für die Klimatisierung zu senken.

Die Idee bauen

„Eine phantastische Idee, aber wie wollt Ihr das bauen?“, fragten sich viele Beobachter nach der ersten Präsentation der Pläne.

„Marilyn hat uns gehörig ins Schwitzen gebracht“, räumt Tragwerksplaner Sigmund Soudack vom Büro Sigmund Soudack & Associates aus Toronto ein. „Ich konstruiere seit mehr als 40 Jahren, aber ein Gebäude wie dieses hatte ich noch nie: Jedes Geschoss ist anders.“ Obwohl die Deckenplatten in allen Etagen identisch sind, entsteht durch die leichte Verdrehung der Stockwerke in jeder Wohnung ein anderer Raumeindruck. Die unterschiedliche Ausrichtung der Geschosse wirkte sich zwangsläufig auch auf die Statik aus: Jede einzelne Wand oder Stütze ist unterschiedlichen Belastungen ausgesetzt. Mehr als 200 Kombinationen aus Lastfällen mussten die Tragwerksplaner im Vorfeld berechnen. Bei herkömmlichen Hochhäusern sind 10 bis 15 Kombina­tionen üblich.Trotz der komplexen Form entwickelte Soudack eine vergleichsweise einfache, kostengünstige statische Konstruktion, die die organisch gewundenen Wohntürme trägt. Sie beruht auf einem Tragwerk aus Wandscheiben, den Shear Walls. Die Länge dieser kreuzförmig angeordneten, tragenden Betonwände passt sich in jedem Geschoss individuell dem Grundriss an: Je nachdem, um wieviel Grad die Decken pro Etage verdreht sind, fallen die Wände länger bzw. kürzer aus. Aus statischer Sicht entsteht, trotz mehrfacher Krümmung des Baukörpers, ein kontinuierlicher Kraftfluss. Lokale
Instabilitäten und Lastkonzentrationen, wie sie etwa bei Stützen mit verschiedener Neigung am Deckenrand auftreten können, werden vermieden. Gleichzeitig bleibt die Glasfassade stützenfrei, der Innenraum wird optimal belichtet und die Aussicht nicht verstellt. Die Glaswände sind vergleichsweise einfach und plan ausgeführt, um die Kosten niedrig zu halten. Auskragende Betonplatten bilden die Balkone. Um möglichst filigrane Randprofile zu erzielen, wurden die
Platten im Bereich der Verglasung thermisch getrennt.

Schräg kletternde Schutzwände

Beim Bau der Stützen und Wände kam wegen der hohen Bewehrungsdichte keine mechanische Verdichtung des Betons in Frage. Statt Rüttelbeton wurde daher ein selbstverdichtender Beton verwendet, der die anspruchsvolle Schalungsgeometrie der Decken problemlos ausfüllt und gleichmäßige, porenfreie Oberflächen hinterlässt. Ein spezielles Deckenschalungssystem aus Alu-Paneelen erlaubte es schon nach einem Tag auszuschalen und Paneelen und Träger direkt für den nächsten Betonierabschnitt zu nutzen.

Wegen der versetzten Decken kam eine herkömmliche Einhausung der Geschosse nicht in Frage. Stattdessen entwickelte die Schalungs- und Gerüstbaufirma eine bewegliche Kletterschutzwand, die sich während der Bauarbeiten sowohl vertikal als auch horizontal mitbewegte. Sie schirmte den Arbeitsraum der jeweils obersten drei Geschosse ab, so dass die Handwerker trotz der rotierenden Ebenen auch in großer Höhe sicher arbeiten konnten.

Da ein Umsetzen per Kran aufgrund der Schrägen nicht mög­lich war, wurden die Wandeinheiten – unabhängig von Wind und Wetter – hydraulisch mit einem schienengeführten Selbstkletterwerk bewegt. Den Versatz zwischen den einzelnen Geschossen glichen beim Südturm horizontal fixierte Schienen aus, die Auskragungen bis zu 2 m ermöglichten. Auch für den Nordturm entwickelten die Ingenieure eine Sonderlösung: Da sich die Deckenplatten konstant um jeweils vier Grad verdrehen, kletterten die einzelnen Tafeln der Schutzwand schräg nach oben. Sobald ein Geschoss nach fünf bis sechs Tagen betoniert war, schob sich die Einhausung hydraulisch eine Etage höher. Dazu wurden Kletterschienen in Winkeln zwischen 21 und 26 Grad zur Senkrechten geneigt und über Kletterschuhe und spezielle Adapter mit der Geschossdecke verbunden.

Die Pionierarbeit hat sich gelohnt: Mit ihrer skulpturalen Gestalt bereichern beide Wohntürme die Stadtkulisse von Mississauga. Sie sind ein innovatives Beispiel dafür, wie aus einem Konstruktionsprinzip zahllose Formen entstehen können. Ma Yansong,für seine herausragenden Entwürfe mehrfach ausgezeichnet, war 30 Jahre alt, als er 2006 den Wettbewerb für die Türme gewann. Es war eines seiner ersten realisierten Gebäude.

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