Temporäre Tribüne
Planung nach aktuellen und künftigen Standards

Seit 1950 gilt das Musikfestival Edinburgh Military Tattoo mit bis zu 217 000 Zuschauern als Touristenattraktion und zieht jeden August über 100 Mio. Menschen vor den Fernseher. Selbst die königliche Familie ist häufig zu Gast. Queen Elizabeth II hat ihre Verbundenheit mit dem Festival auf besondere Weise dargestellt: Seit 2010 ist die Veranstaltung „königlich“ und darf sich „The Royal Edinburgh Military Tattoo“ nennen.

Der Genius Locii

Das größte Musikfestival Schottlands findet direkt auf dem Vorplatz von Edinburgh Castle, auf der so genannten Esplanade statt. Die von weitem sichtbare Burg aus dem 12. Jahrhundert sitzt auf Castle Rock, einem Basaltkegel, der nach drei Seiten hin 80 m steil abfällt.

Modernisierung

Das weitläufige Mero-Raumfachwerk der alten Tribüne wurde jedes Jahr aus einer Vielzahl Stäbe und Knoten neu zusammengebaut und nach dem Festival wieder zerlegt, was allein ein Vierteljahr Aufbau bedeutete, währenddessen der Zugang zum Schloss stark eingeschränkt war. Historic Scotland, der Hausherr auf Edinburgh Castle und der Veranstalter des Musikfestivals, The Royal Edinburgh Military Tattoo Ltd., waren sich einig, dass der Ort künftig besser zu organisieren sei, was sich im Wesentlichen in zwei Anforderungen an die neue Tribüne festmachte: einer halbierten Montagedauer und einem ungestörten Zugang von der Esplanade zum Schloss. Beflügelt wurde der Neubau zudem davon, dass die alte Tribüne die aktuellen ­Sicherheitsbestimmungen nicht erfüllte und Zuschauer über zu wenig Beinfreiheit klagten.

Architektur und Tragwerk

Die U-förmigen Tribüne ist ein in die konische Esplanade ‚eingepasstes Stahltragwerk‘ von 75 m Breite, 110 m Länge und 20 m Höhe. Es besteht aus bis zu 28 m langen Fischbauch­trägern die auf V-förmigen Stützen bis zu 9 m über den Südhang auskragen, aus horizontalen 3-Gurtträgern, zwei Treppenhaustürmen, drei Zugangsbrücken, Trägerrosten, einem Portalträger ...

Disproportionate Collapse

Seit 1968 eine Gasexplosion in der 18. Etage eines 22-stöckigen Gebäudes am Ronan Point in London eine komplette Gebäudeecke infolge der fortschreitend aufeinander fallenden Etagendecken zerstörte, gibt es in Großbritan­nien das Bestreben, dass neue Gebäude auch außergewöhnlichen Ereignissen standhalten sollen, etwa Brand, Explosion, Anprall oder den Folgen menschlichen Versagens.

So gibt die aktuellen Fassung der „Building Regulations 2000 Part A” drei Nachweismethoden gegen Dominoeffekte. Die Methoden zur Prüfung auf Disproportionate Collapse müssen aber nur auf Gebäude von fünf oder mehr Stockwerken angewendet werden. Die Methode richtet sich nach der Einstufung der Gebäudetypen in eine von vier Risikoklassen (1, 2a, 2b, 3), je nach möglichen Anzahl verletzter Personen, möglicher Umweltschäden oder möglicher materieller Verluste.

Methode 1 (Tying): Es werden wirksame horizontale Zugverankerungen und wirksame vertikalen Verankerungen eingebaut, wodurch das Gebäudetragwerk redundanter wird, weil Bauteile, die durch außergewöhnliche Belastungen ausfallen, von alternativen Lastpfaden übernommen werden und deren Verschiebung vor Ausfall begrenzt wird.

Methode 2 (Bridging): Wo Zugverankerung nicht möglich sind werden Bauteile, die ausfallen, überbrückt, damit der Schaden lokal begrenzt bleibt. Dazu überprüft man bereits in der Entwurfsphase den rechnerischen Ausfall einzelner Stützen und Träger. Es dürfen maximal 15 % der Geschossfläche oder 70 m² des Gebäudes lokal versagen.

Methode 3 (Key element): Ist die erwartete Schadensfläche größer, werden die zuvor aus­gefallenen Bauteile als Haupttragelemente bemessen. Dazu werden diese mit einer außergewöhnlichen Einwirkung von 34 kN/m² belastet, in horizontaler Richtung und vertikaler Richtung, wobei das Bauteil und seine Anschlüsse tragfähig bleiben müssen.

Die Methoden zur Vermeidung von Dispro­portionate Collapse sind in Großbritannien in verschiedenen Fachnormen über Stahlbeton- und Stahlkonstruktionen sowie Mauerwerksbau eingegangen und weiter spezifiziert worden: So gibt der BS 5950-1 (Structural use of steelwork in building, Part 1) zusätzliche Information über Lasten und Lastfallkombinationen bei der Untersuchung auf Disproportionate Collapse: „Bei der Berechnung des Tragwerks unter Ausfall einzelner Bauteile müssen außer dem Eigengewicht nur ein Drittel der anzusetzenden Windlasten und ein Drittel der anzusetzenden Nutzlasten in Ansatz gebracht werden“. Die Regelungen zur Begrenzung lokalen Versagens bei außergewöhnlichen Belastungen, die in Großbritannien in den Building Regulations von 1976 erstmals eingegangen sind, finden sich ähnlicherweise in den Eurocodes seit der Veröffentlichung der ENV 1991-2-7 wieder, die durch die EN 1991-1-7 – Außergewöhnliche Einwirkungen ersetzt wurde.

Die Tribünenkonstruktion in Edinburgh mit zuvor 8 600, jetzt 8 800 Sitzplätzen ist der höchsten Gebäudekategorie 3 zugeordnet. Mit Methode 2, dem Herausnehmen einzelner Stäbe in 25 Fällen unter bestimmte Lastszenarien konnten wir nachweisen, dass das so geschwächte Tragwerk nicht einstürzt, weil sich alternative Lastpfade herausbilden. Da sich die Tribüne zwar stark verformt aber stabil bleibt, war es nicht nötig einzelne Bauteile nach Methode 3 zu konditionieren.

Baudynamische Untersuchung

Damit sich sitzende und stehende Besucher einer Veranstaltung sicher auf der Tribüne fühlen, muss außer der Standsicherheit auch das Schwingverhalten bei Personen induzier­ter Anregung untersucht werden. Dazu wird der übliche Gebrauchstauglichkeitsnachweis der Verformungsbewertung aus statischen Lasten um eine baudynamische Untersuchung erweitert. Ziel ist eine komfortable Tribüne, deren Eigenfrequenz mit ausreichendem Abstand über der Erregerfrequenz liegt.

Auch wenn die Tribüne jedes Jahr nur für wenige Monate im Einsatz ist, so wird sie in dieser Zeit außer für das Royal Edinburgh Military Tattoo auch für Konzerte mit weit dynamischerem Zuschauerverhalten genutzt. Die zumeist sitzenden Zuschauer beim Military Tattoo werden die Tribüne kaum in Schwingung versetzen.

Wegen der kurzen Standzeit hätte die demontierbare Tribüne als temporärer Bau eingestuft werden können. Da aber der Bauherr die baudynamischen Qualitäten einer permanenten Tribüne wünschte, basierten unsere Untersuchungen zur Dynamik auf dem Handbuch des Institution of Structural Engineers mit dem Titel „Dynamic performance requirements for permanent grandstands subject to crowd action”. Dieses Handbuch stellt für den Entwurf und für die Bewertung der Tribünenkonstruktion in Hinblick auf Personen induzierter Schwingungen zwei mögliche Nachweismethoden zur Verfügung, Route 1 und Route 2 genannt:

Route 1 basiert auf einer Eigenfrequenzanalyse der Tribünenkonstruktion, bei der die niedrigste Eigenfrequenz der maßgebenden Eigenform in horizontaler und vertikaler Richtung die Vorgaben aus dem Handbuch erreichen muss. Hierbei wird das Eigengewicht der Konstruktion und die Massen aller fest installierten Aufbauten (z.B. Sitze) eingerechnet, nicht aber das Eigengewicht der Zuschauer.

Wogegen in Route 2 die Schwingungsanregung mit einem Masse-Feder-Dämpfersystem nachgebildet und als Ergebnis der Effektivwert der Schwingbeschleunigung mit Grenzwerten aus dem Handbuch verglichen wird.

Zum Handbuch „Dynamic performance requirements for permanent grandstands sub­ject to crowd action”: Nicht jede Zuschauertribüne ist für den Einsatz bei Rock- und Pop Konzerten bestimmt. Deshalb gibt es eine Unterteilung in vier Veranstaltungsszenarien:

1. Tribünen für mäßig besuchte Sportveranstaltungen mit ruhigem Zuschauerverhalten

2. Tribünen für z.B. Klassik-Konzerte mit meist sitzendem Publikum

3. Tribünen für stark besuchte Sportveranstaltungen mit einer möglichen Anregung durch das Publikum

4. Tribünen für Rock- und Pop Konzerte, wo erwartet wird, dass die Besucher durch rhythmisches Stampfen oder Hüpfen dem Geschehen auf der Bühne folgen

Die 850 t schwere Stahlkonstruktion aus bis zu 13 m langen und 5 Tonnen schweren Bauteilen wurde 2011 zum ersten Mal aufgebaut. Der Erstaufbau benötigte 9 Wochen. So bleibt es spannend, wie nahe der Zweitaufbau 2012 an die avisierten 6 Wochen herankommt.

Während in Deutschland erst ein VDI-Entwurf zur Gebrauchstauglichkeit von Bauwerken bei dynamischen Einwirkungen für Tribünen vorliegt, sind baudynamischen Komfortnachweise in Großbritannien seit 2007 Standard. Während in Großbritannien der „Disproportionate Collapse“ bereits seit 35 Jahren untersucht wird, ist diese Sicherheitslücke bei uns erst 2007 mit dem Eurocode 1, Teil 1-7 geschlossen worden. Tribünen werden damit sicher­er und komfortabler.

Literatur
Dispropotionate Collapse
BSI Standards (Hg.): BS 5950-1: Structural use of steelwork in building. Part 1: Code of practice for design – Rolled and welded sections. London 2000.
DIN EN 1991-1-7. Eurocode 1: Einwirkungen auf Tragwerke. Teil 1-7: Allgemeine Einwirkungen – Außergewöhnliche Einwirkungen. 2007.
Kelly, Peter: Robustness and Disproportionate Collapse. Part 1: 2009 / Part 2:2010.
www.structural-precast-association.org.uk. (2011-09)
Moore, D.B.: The UK and European Regulations for Accidental Actions. BRE Garston.
www.nibs.org/client/assets/files/mmc/Moore% 20paper.pdf
Technical Handbook. Section 1 – Structure (Mai 2011)
www.scotland.gov.uk/Resource/Doc/212606/0117146.pdf
The office of the Deputy Prime Minister (Hg.): The Building Regulations 2000. Structure. Approved Document A. London 2004.
Baudynamische Untersuchungen:
The Institution of Structural Engineers (Hg.): Dynamic performance requirements for permanent grandstands subject to crowd action. London 2008. VDI-Gesellschaft Produkt- und Prozessgestaltung (Hg.): VDI-Richtlinie. VDI 2038 Blatt 1 (Entwurf): Gebrauchstauglichkeit von Bauwerken bei dynamischen Einwirkungen - Unter­-suchungsmethoden und Beurteilungsverfahren der Baudynamik - Grundlagen - Methoden, Vorgehens-weisen und Einwirkungen. Düsseldorf 2010-11.
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