Arbeitswelt zwischen Apollon und Dionysos

Station F, Paris/FR

Wie der gelungene Umbau einer ehemaligen Güter-umschlagshalle aussehen kann, zeigt die Station F. Es geht hier allerdings um mehr als um einen Umbau, denn das innovative Programm des Start-up-Inkubators konnte die städtischen Behörden davon überzeugen, dass der richtige Ort für dieses ambitionierte Projekt die gigantische Halle von Freyssinet ist, die vom Abriss bedroht war. Hier tut sich nun eine neue Arbeitswelt auf.

Seitdem die Bahn sie nicht mehr benötigte, gab es keinen passenden Inhalt mehr für die 58 m breite Stahlbetonstruktur, deren dreischiffiger Aufbau sich durch flache und äußerst dünnwandige Gewölbe auszeichnet: (10 cm an den Auflagerpunkten und 5 cm im Mittelteil), ermöglicht durch Stahlbetonzugbänder und Druckstäbe. Die 300 m langen Seitenfronten sind von einem gewellten, auskragenden Vordach überdeckt, bestehend aus seriell aneinandergereihten, elegant flachen und beinahe schwebend wirkenden, abgehängten Stahlbetongewölben, die dank der Vorspannung nicht mehr als 5 cm Wandstärke haben.

Bei diesem 1925 – 1927 erbauten Meisterwerk handelt es sich um das erste Gebäude mit vorgespanntem Stahlbeton; eine technische Innovation, die der damalige Jungunternehmer Eugène Freyssinet Zeit seines Lebens weiterentwickelt und weltweit propagiert hat. Der Abriss dieser Halle, die städtebaulich gesehen in einer Enklave liegt – eingeklemmt zwischen den Gleisanlagen der Gare d’Austerlitz und der 13 m höheren, in den 1990er-Jahren angelegten Bürostraße entlang der Nationalbibliothek von Dominique Perrault – konnte nur durch vehemente Architekten- und Bürgerinitiativen verhindert werden. Letztlich traf der damalige Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë einen weisen Entschluss, indem er sich für eine weitgehende Revitalisierung des Pariser Industrieerbes aussprach.

Das vom französischen Großunternehmer und Selfmademan Xavier Niel vorgeschlagene Start-up-Projekt überzeugte die Stadt. Sie verkaufte das Grundstück für einen geringen Preis, denn Niel war bereit, 250 Mio. € in das Grundstück, in die Hallensanierung und in den Neubau von 100 Wohneinheiten für Jungunternehmer im nahegelegenen Ivry zu investieren.

Die 22 000 m2 Grundfläche der Halle sollte durch in den Seitenschiffen eingezogene Mezzanine um weitere 12 000 m2 ausgedehnt werden. In dieser Größenordnung ist der „Inkubator“  Station F einzigartig auf der Welt. Er zeichnet sich aber auch durch das vielfältige Serviceangebot aus, denn den 1 000 Start-ups (3 500 Arbeitsplätze) werden zahlreiche Ateliers und Konferenzen angeboten, die den Jungunternehmern, die in erster Linie im Digitalbereich arbeiten, auf die Beine helfen sollen. Je nachdem, in welches Programm sie mittels eines Auswahlverfahrens aufgenommen werden, können sie den Inkubator mindestens sechs Monate, maximal zwei Jahre lang nutzen. Auch eine soziale Dimension steckt hinter dem ausschließlich privat finanzierten Projekt: „Nicht alle der Start-ups müssen für ihren Arbeitsplatz bezahlen“, präzisiert der Direktor der Community Station F. „Wenn sie noch kein Kapital haben, kommen sie in das Fighters Program, wo ihnen die monatliche Miete von 200 € erlassen wird“. In manche Start-ups investiert Niels ­Aktien – ein lukratives Geschäft.

Räumlich gesehen musste, gemäß den Vorgaben der Stadt, die Halle in der Länge durch zwei öffentliche Durchgänge unterteilt werden, um der Enklavenbildung entgegenzuwirken. Auch öffentlich zugängliche Angebote sollten integriert werden. So gibt es ein Café auf der Eingangsseite am nordwestlichen Ende, eine Post beim ersten Durchgang und eine eindrucksvolle Restaurant- und Loungelandschaft am südöstlichen Ende, in der Nähe der Metro. Die restlichen Flächen bieten den Start-ups großzügige Arbeitsflächen.

Mit dem Umbau beauftragte Niel Jean-Michel Wilmotte, der sich im Bereich Sanierung bereits einen Namen gemacht hat. Mit Feingefühl schafft er es, möglichst zurückhaltend einzugreifen und die Eleganz der renovierten Struktur wirken zu lassen. „Folgende Prinzipien waren von Anfang an klar“, erklärt Valérie Valentin von Wilmotte & Associés: „Der zentrale Hallenbereich soll nicht mit Querwänden unterteilt werden, um weiten Durchblick zu gewähren. Der am nordwestlichen Ende gelegene Querbau und ein kleiner Zubau am anderen Ende sollten entfernt werden, um die dreischiffige Konstruktion zur Schau zu stellen. Daraus ergab sich ein statisches Problem, denn der vordere Querbau hatte eine stabilisierende Funktion: entfällt diese, könnte die in einem fragilen Gleichgewicht stehende Struktur wie ein Kartenhaus zusammenfallen“. Die Lösung hat Eleganz: die Betonstruktur wurde auf der Eingangsseite mit aussteifenden Stahlrahmen eingefasst. Weitere heikle Eingriffe waren die nötige Verstärkung der Fundamente wegen der Mezzaninlasten, die Sanierung des Betons und eine diskrete Anbringung der Außendämmung. Später erfolgte Eingriffe, wie die Schließung des Oberlichtbands und der seitlichen Fassaden, wurden entfernt, womit die Struktur auf ihren Urzustand rückgeführt wurde.

Die neu hinzugefügte Architektur ist ausgesprochen schlicht gehalten und auch farblich auf Schwarz und Weiß reduziert, um sich vom grauen Beton klar abzuheben. Nur die über­dimensionalen, speziell angefertigten Lounge-bänke stechen bunt ins Auge und bringen, zusammen mit einigen Kunstwerken, Leben-
digkeit in den „neutralen“ Raum. Der beeindruckend große Open Space wird durch unterschiedliche Arbeitsbereiche strukturiert: Im Erdgeschoss und auf den seitlichen zweigeschossigen Mezzaninen sind thematische Arbeitsgruppen von jeweils 120 Personen verteilt, Villages (Dörfer) genannt, die sich Gemeinschaftseinrichtungen und eine Chillout-Zone teilen (Tischfußball, Spielautomaten, Sofas, Kaffeetischchen, etc. stehen zur Verfügung). Denn das Konzept beruht nicht nur auf gegenseitigem Austausch und Hilfe, sondern auch auf Geselligkeit – ein essenzieller Faktor, wenn man die Arbeitsstunden nicht zählt. Aus den Mezzaninen treten verglaste Boxen hervor, Container genannt – eine Anspielung an den ehemaligen Güterbahnhof –, darin befinden sich die Meetingräume, in denen die Jung­unternehmer interne und externe Partner empfangen können. In der demonstrativen Zurschaustellung der Arbeit erinnern sie vage an die Boxen des Großraumbüros in Jacques Tatis Film Playtime (1967). Somit wird das Innen­leben theatralisch zum animierten öffentlichen Schauplatz, ein beziehungsreicher Anreiz zum eigenen Handeln.

Im vordersten Abschnitt der Halle, in dem der Haupteingang liegt, befindet sich die Share-Zone, in der die gemeinschaftlichen Einrichtungen angesiedelt sind. Im Zentralschiff ist ein Auditorium unsichtbar im Boden versenkt, während in den Seitenschiffen ein FabLab (Lasercut, 3D-Drucker, Atelier), ein Café Co-Working, Servicebereiche und Büros für die Administration untergebracht sind. Der mittlere Abschnitt, Create, ist ausschließlich der Kreativität gewidmet, während die letzte Zone dem Chillen dient, mit Cafés, Restaurants und Bars. So kartesisch streng die Linien in den Arbeitsbereichen gehalten sind, scheint hier der Teufel los zu sein: Mit hohen Pflanzen, Sesseln und Tischen vollgestellt, von unzähligen, sich überlagernden Sounds erfüllt, von zwei Einbahnwaggons durchschnitten – Relikte der alten Zeit, die nun als Restaurants dienen – bietet dieser chaotisch anmutende Raum schlagartig eine andere Welt (die nicht von Wilmotte gestaltet wurde).

Nietzsche hatte bereits in Die Geburt der Tragödie (1872) das unabdingliche Zusammenspiel von Apollon und Dionysos hervorgehoben: Der eine bedarf des anderen, um das zur Kreativität nötige Spannungsfeld zu erzeugen. Eben um diese Spannung scheint es hier zu gehen. Arbeit allein kann die Devise nicht heißen. Ist es etwa das, was wir heute mühsam wiedererlernen müssen? Ist im Zuge der Industrialisierung die diony­sische Dimension von der Ford’schen Produktionskette er­drosselt worden? Hat das Schumpeter’sche Prinzip der schöpferischen Zerstörung – der dem Kapitalismus inhärente Drang nach unentwegter Erneuerung – uns in eine rasende Arbeitswelt gestürzt, der wir ausgeliefert sind? Die Chill-Zone erinnert uns an ein längst verlorenes Gleichgewicht, das die heutige Jugend nicht mehr bereit ist aufzugeben; Ist diese brausende Atmosphäre nicht etwa Ausdruck dafür, dass krea­tives Arbeiten neue Arbeitswelten braucht? Susanne Stacher

Baudaten

Objekt: Station F – La Halle Freyssinet

Standort: ZAC Paris Rive Gauche, Paris/FR

Typologie: Start-up Campus

Bauherr: SDECN

NutzerInnen: Verschiedene Start-up Unternehmen

Architektur: Wilmotte & Associés, Paris/FR, www.wilmotte.com

Denkmalpflege: 2BDM, Paris/FR, www.2bdm.fr

Bauzeit: 2014 – 2018

Tragwerksplanung: SAS Mizrahi, Garches/FR, www.sasmizrahi.com

Energieplanung: Transsolar SAS, Paris/FR, www.transsolar.com

Fassadenplanung: Arcora, Paris/FR, www.arcora.com

Gebäudetechnik: Barbanel, Bagneux Cedex/FR, www.barbanel.fr

Akustik: LASA, Paris/FR, www.lasa.fr

Hersteller

Glas (Fassade): AGC Glass Europe, www.agc-glass.eu

Sonnenschutz: Mermet SAS,

www.sunscreen-mermet.de

Aufzüge: Schindler,

www.schindler.com

Kühldecken: Barcol-Air,

www-barcolair.com

Akustikausstattung Auditorium: TD Acoustic, www.tdacoustic.com

Brandschutz-Glastrennwände: Saint-Gobain, www-saint-gobain.de

Teppich: Carpet Concept,

www.carpet-concept.de

Sanitär und Fliesen: Villeroy & Boch, www.villeroy-boch.de

Gütertransport wird zum Ideentransport: Vor hundert Jahren zirkulierten in diesen Arbeitswelten noch Waren und industrielle Maschinen – heute sind es Ideen und Innovationsprozesse. Die elegant sanierte Bausubstanz ist Zeuge dieser gesellschaftlichen Entwicklung und weist den Weg dieses digitalen Inkubators mit über 3 000 Arbeitsplätzen in die Zukunft.« DBZ Heftpartner HENN, Berlin
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