Arbeit im Bestand als ästhetisches Kalkül

Prof. Johannes Kister
zum Thema „Bauen im Bestand“

„Bauen im Bestand“, das klingt nach einer Spezialdisziplin der Architektur. Das ist vorbei, genau wie die Glasfuge. „Bauen im Bestand“ steht für eine architektonische Kultur, in der sich das Spannungsverhältnis von authentischem Jetzt und Ideen vorhergehender Generationen festschreibt. Jedes Bauen ist Entwerfen an einem Ort mit Bestand. Der kinetische Expressionismus, den Sloterdijk für die Moderne wesensmäßig hält, gilt auch für die Architektur des 20. Jahrhunderts – in dem immerwährenden Anlauf, die konzeptionelle Basis des Entwerfens auf absolute Prinzipien zu reduzieren. Da bahnt sich heute ein Paradigmenwechsel an, der das Vorhandene in anderem Verhältnis zum Konzept reflektiert; nicht nur bezogen auf Physisches, sondern auch auf sozialkulturelle und kulturgeschichtliche Denkräume.

Ein paar dieser Denkräume lassen sich identifizieren. Der italienische Ansatz – natürlich Carlo Scarpa – mit einer semantischen Dekonstruktion architektonischer Ergänzungen, die, vordergründig ästhetisch wahrgenommen, stilprägend geworden ist; wenngleich selten in der Differenziertheit der Assoziationsgeflechte, die er ausgelegt hat. Gleichfalls italienisch und ein wenig deutsch der Rationalismus, der typologisch reagierte und dessen Mentor Snozzi mit seinen Projekten in Locarno eine wunderbare Koje auf der aktuellen Biennale erhalten hat, von der noch zu sprechen sein wird. Der spanische Beitrag zur Ideengeschichte des „Bauens im Bestand“ ist charakteristisch in dem Gegenüber ruraler Plastizität und moderner Abstraktion und feiert eine selbstbewusste Haltung, die das Alt und Neu ästhetisch dialektisch versteht. Der englische Beitrag zu dem Thema ist auch nur konsequent aus dem angelsächsischen Kulturraum und einer manufakturartigen Produktion zu verstehen. Hightech war eine dieser Haltungen, das Lloyds‘ Building von Rogers als Beispiel. Im Moment macht eine andere Herangehensweise Furore, die grob umrissen für ein Weiterbauen mit dekorativer Überhöhung architektonischer Zitate oder aus Übernahmen stilistischer Motive besteht. Einerseits suggeriert dies ein Überspringen der Moderne, zum anderen stellt es autonome Neuschöpfungen dar. „Aus dem Geist des Ornaments“, würde Sullivan ergänzen. Der Neubau der Landesbank in Bremen von Caruso St. John könnte für diese Haltung stehen.

Und nun deutsch? Im Wesentlichen ist das die Wiederentdeckung, wie urbanes Bauen in der Stadt gehen könnte. Exempliert nach der Wiedervereinigung in Berlin und anderen ostdeutschen Städten. Kein ästhetisches Konzept im Wesentlichen, sondern ein städtebauliches, konzeptionelles Architekturdenken vor dem Paravent der im Nachkriegsdeutschland gänzlich untergegangenen Großstädte.

Man mag verzeihen, dass hier national argumentiert wird. Aber im Jahr der Architekturbiennale in Venedig liegt dies nahe, vor allem, weil es dort diesen grandiosen belgischen Pavillon gibt, der auf subtile Weise einen weiteren Denkraum eröffnet. Die Zusammenschau von Photomontagen des Unrealen und realen Projekten stellt uns auf die Probe, da beides so wenig eindeutig zuordenbar ist. Genau das aber wirkt als Botschaft. Wenn eine ästhetische Version mit einer architektonischen Realität zusammenfällt, ist das einerseits illusionslos, andererseits ein Verweis auf die allgegenwärtige Realität als nicht zu überformende Präsenz, die ästhetisch schöner, besser, moderner gemacht werden kann. Inbegriffen ist da perspektivisch eine Wildheit, Kulturlosigkeit, eine Verzahnung ästhetischer Standards, aber gleichzeitig in direkter und intelligenter Weise eine Präsenz des Verwachsenseins mit dem Bestand, die als ästhetisches Kalkül überzeugend ist. Ist die Zukunft jetzt im Realen verschmolzen? Die dialektische Spannung von Vorhandenem und Neuem auf Null gesunken? Bedeutet das das Ende oder einen Anfang?

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