Momente der größten Spannung
HDI-Gerling Haupt­verwaltung, Hannover

Mit dem Einzug von Computern in der angewandten Kunst nahm die Zahl der Arbeiten stark zu, die auf regelmäßigen Gittern basieren und bei denen, etwa durch Variation der Strichstärke, zusätzliche Bildaussagen geschaffen wurden. Das zentrale Atriumdach der HDI-Hauptverwaltung in Hannover überträgt diese Idee nun in die Architektur.

Einem Architekturstudenten begegnet die Formulierung „Form follows function“ während seines Studiums recht schnell. Wie der Leser sicherlich weiß, meint diese, dass eine gestalterische, wie konstruktive Notwendigkeit architektonisch ablesbar sein soll und dass eine gekonnte Umsetzung – quasi per Definition – ­immer auch ästhetisch ist. Das zentrale Atrium der neuen HDI-Gerling Hauptverwaltung bestätigt diese Lehre auf eindrucksvolle Weise:

Ein tischartig konzipiertes Dachtragwerk mit vier eingerückten Stützen nimmt eine gleichmäßig verteilte Last auf, die nach außen zu seinem Rand hin natürlich abnimmt. Früher begnügte man sich damit in Ermangelung geeigneter Rechenkapazitäten, diese Biegemomente einfach als idealisierte Geraden zu begreifen. Man versah das Tragwerk mit den entsprechenden Sicherheitsaufschlägen und schuf in der Seitenansicht dreieckige Träger, die im Punkt der größten Last (nahe der Stütze) auch die größte konstruktive Höhe aufwiesen und sich nach außen hin auf einen konstruktiv sinnvollen Minimalwert verjüngten. Tatsächlich aber bildeten die einwirkenden Kräfte nie eine gerade Funktionslinie. Berücksichtigt man alle einwirkenden Faktoren, wie Wind, Schneelast und natürlich die Eigenmasse, entsteht de facto eine exponentielle Verlaufskurve.

Prof. Werner Sobek, Leiter des Instituts für Leichtbau, Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart, erkannte ­darin ein ästhetisches Potential und setzte dieses bei diesem Projekt zum ersten Mal in größerer Dimension um.

Architektonische Vorgaben

Die neue, sich auf 178 x 178 m ausdehnende Hauptverwaltung des HDI-Gerling Versicherungskonzerns in Hannover ist in ihrer Gesamtheit ein Entwurf von igenhoven architects aus Düsseldorf. Der Neubau liegt verkehrsgünstig im Nordosten der Landeshauptstadt, unweit der beiden Hauptautobahnen A2 und A7. Christoph Ingenhoven ­begreift dieses Verwaltungszentrum als eine moderne und kommunikative Arbeitswelt, die er für 1.800 Mitarbeiter ausgelegt hat. ­Deren Architektur gliedert sich auf in vier 6-geschossige Büroriegel, die fingerartig mit dem Mittelpunkt der Anlage, einem

51 x 51 m großen Atrium, verbunden sind. Über die vorgesetzte Wendeltreppen und Glasaufzüge erfolgt hier sowohl eine vertikale, wie über breite Brücken eine horizontale Erschließung aller Ebenen.

Dieses quadratische Zentrum wird überdacht von einem gläsernen Flachdach, das  so der Architektenwunsch, möglichst frei in 26 m Höhe horizontal über der eigentlichen Gebäudestruktur schweben sollte. Eine Wölbung des Daches war nicht opportun, auch wollte das Planungsteam um den Düsseldorfer Architekten einen möglichst schlanken und ebenen Dachrand, an den sich eine weitgehend entmaterialisierte Atriumfassade anschließen sollte. Schließlich forderten die Architekten eine Ableitung des ­Regenwassers ohne sichtbare Fallrohre und eine Entrauchung des überdachten Innenhofes über ­entsprechende Öffnungen im Glasdach.

Prinzip der Lastabtragung

Das realisierte Tragsystem des Atriumdaches ist ein gleichmäßig angeordneter, in zwei Achsen abtragender Rost mit einem Rastermaß von 1,58 m. Die Flachdachkonstruktion ruht auf vier in den Viertelspunkten platzier­ten Stahlstützen, die jeweils einen Durchmesser von 0,61 m aufweisen. Dem Prinzip einer solchen Anordnung entsprechend, ist der Stützabstand genau doppelt so groß wie der jeweils zum Rand. Hier beträgt der erste 25,28 m, der zweite bis zur Außenkante 12,88 m. Die Höhe der Rechteckträger verändert sich in der eingangs beschriebenen Form und ist affin zur Biegemomenten-

linie. Das meint, dass seine jeweilige Höhe über den Grundriss gestaffelt und ­dynamisch wie spannungsgerecht auf das Lastaufkommen im ­jeweiligen Trägerabschnitt dimensioniert wurde. Die Maße variieren dabei zwischen 190 mm bis 1 260 mm. Die einzelne Trägerbreite des Dachrosts misst jedoch immer 70 mm. Dieser Wert ist das konstruktive Maß, das die darauf angebrachten Verglasungsleisten ohnehin aufweisen. Bei einem Gesamtgewicht der Stahlkonstruktion von 310 t und einem Flächengewicht von 119 kg/m² wurde dem Wunsch nach einer maximalen Transparenz erfolgreich Rechnung getragen. Bedingt durch das verhältnismäßig kleinteilige Tragstrukturraster konnte zudem eine zu erwartende Verwindung der Dachverglasung auf ein erträgliches Maß von ­unter 8 mm je Isolierglaseinheit gehalten werden.

Druckschwerter zu Zugscharen

Das von dem Stahlraster getragene Atriumdach bildet nicht nur in der Fläche das Zentrum der Hauptverwaltung. Auch in der Außenansicht „krönt“ das alles überragende Element die Gesamtanlage. Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch der Architekten zu verstehen, dass ein verhältnismäßig schmales, 2 m hohes, gläsernes Horizontalband zwischen dem oberen Abschluss der Gebäuderiegel und der Unterkante der Dachkonstruktion so entmaterialisiert wie möglich wirken soll.

Um größere Querschnitte zu vermeiden, die eine aus dem Gewicht des Daches darauf resultierende Auflast erfordert hätte, entschied sich Prof. Sobek für ein extremes Vorspannen des Atriumflachdaches. Statt – wie üblich – die vertikalen Fassadenpfosten auf Druck zu be-lasten, werden sie nun auf Zug beansprucht und spannen regelrecht das Flachdach nach unten ab. Tatsächlich betragen die Vorspannwege und die entsprechenden Überhöhungen der Dachkonstruktion entlang der Fassadenlinie zwischen 250–550 mm und in den Ecken des Atriumdaches sogar knapp 900 mm.

Da Stahl diese Kraftrichtung viel besser aufnehmen kann als Druck, erlaubte es die ausschließliche Belastung der vertikalen Stahlkonstruktion auf Zug, die vertikalen Pfostenprofile um Einiges schlanker auszuführen. Zudem wurden sie als nach außen vor die Fassade vorspringende Vertikalschwerter ausgeführt, die angesichts ihrer geringen Breite aus dem Innenbereich heraus kaum wahrzunehmen sind. Ein weiterer Vorteil dieser immensen „Abspannung“ durch die Fassade ist eine ausreichende Aussteifung gegen Querkräfte, sprich Windlasten, was das Einfügen von diagonalen Zugbändern in die Glasfassade überflüssig macht.

Hochleistungsentwässerung

Das Dach wird durch eine „Hochleistungs-Dach-Entwässerung“ (HDE) entwässert. Bei diesem System werden mittels spezieller Einlauftöpfe große „Wasserpfropfen“ erzeugt, die im Fallen das ­gesamte Fallrohr ausfüllen und damit einen saugenden Unterdruck erzeugen. So ist es möglich, dass deutlich kleinere Rohrdurchmesser viel größere Abflussmengen erreichen als normale, offene Fallleitungen. Bei diesen läuft das Wasser letztlich nur ­entlang der Rohr­innenwände nach unten. Im Rohrkern bildet sich dagegen ein den Druck ausgleichender Zuluftkanal. Die etwas tiefer liegenden Hochleistungswassereinläufe sind direkt über den vier hohlen Hauptstützen angeordnet, welche die Fallrohre in diskreter Weise in sich bergen. Das Flachdach weist von seinen Rändern hin zu den Viertelsmitten eine geringe Neigung von 3 % auf.

Das Dach als Krone

Gleichwohl das zentrale Atrium von außen kaum wahrzunehmen ist, dominiert es vollkommen das innere Raumerleben der Konzernzentrale. Ein wenig fühlt man sich bei dem majestätisch über allem schwebenden Dach an die expressionistischen Architekturtheorien eines Bruno Taut erinnert, der diese 1919 in seinem Buch „Die Stadtkrone“ beschrieb. Darin skizziert er Stadtzentren mit kristallin-solitären Höhepunkten, die sich klar erkennbar und die Mitte betonend über eine urbane Struktur erheben. Bei der HDI-Gerling Hauptverwaltung haben die Architekten diesen ­Gedanken erfolgreich in einer innenarchitektonischen Variante umgesetzt. Robert Mehl, Aachen, Webcode DBZ3P8RS

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