Leidens- und Lebens­fähigkeit steigern
Design-Ikonen und ihre Neuauflagen;
ein schwierig schönes Unterfangen

USM, Vitra, Miller, Knoll International, Wilkhahn, Tecta, Cassina, Hansen, Thonet, die Liste der Möbelhersteller ist lang, aber nicht übermäßig lang, was in der Natur der Sache liegt, schließlich sind Spitzenproduktionen von Spitzenmöbeln nur begrenzt möglich. Der Liste der Möbelhersteller könnte man eine Liste derjenigen hinzufügen, denen wir letztendlich die Entwürfe der Klassiker und Ikonen verdanken, zumeist sind es Architekten. Oder Architektinnen wie Lilly Reich beispielsweise oder Charlotte Perriand, die beide hinter den Männern van der Rohe beziehungsweise Le Corbusier zurückstehen mussten. Oft wird den Entwürfen über eine Signatur ein Platz im Gesamtwerk zugewiesen, oft Chiffren, die dem Außenstehenden böhmische Dörfer sind: LC1, MR10 / S 533 RF, oder der in einem Rechtsstreit bekannt gewordene Hocker B9, oder der B22 b; oder die SE49, SE68 … Oder die Chiffren werden zu Namen: Barcelona Chair, Rocking Chair, The Egg und Tulipe Chair, Robie Chair, Diamond Chair, Long Chair, Ameise ...

Der Stuhl sollte nach so viel Geschichte eigentlich erfunden sein, und wenn Mies van der Rohe, auf dessen Konto eine ganze Menge Sitze gehen, verlauten ließ, es sei schwieriger, einen Stuhl zu entwerfen als ein Gebäude, fragt man sich, ob das nun dem Understanding eines sich selbst Inszenierenden entsprang, oder den tatsächlich gemachten Erfahrungen.

Wahrscheinlich bauen Architekten Stühle, weil sie es nicht ertragen, ihre Architektur mit Möbel zu bespielen, die dem Anspruch an ein Gesamtkunstwerk nicht gerecht werden können. Viele dieser Möbelentwürfe, die heute gesuchte und zum Teil sehr kostspielige Sammlerstücke sind, spiegeln den technischen Stand der Zeit damals wider (von Komfort- also auch Ergonomievorstellungen gar nicht zu reden). Verbindungen waren damals grober, Passgenauigkeit unterlag anderen Toleranzen, Stähle waren weniger elastisch, Holz weniger technisch verarbeitet. Der „Chassis“ (Wilkhahn), ein aktueller Blechstuhl von Stefan Diez, verdankt sein Dasein dem Tiefziehen (Charosserieteilefertigung): Er steht für die Technik heute, mit ihm sind wir in der Gegenwart angekommen.

Oder wir nehmen die alten Berühmtheiten noch einmal her und verbessern sie; was sie oft nötig haben. Bekanntestes Beispiel für dieses Work in progress ist der Panton Chair, der in den fünf Jahrzehnten seines Daseins immer weiter optimiert wurde (Material, Spritztechnik, Details); Farbausbleichung, Porosität, Risse, Brüche gar waren die Opfer, die seine im doppelten Sinne „Besitzer“ bringen mussten, wollten sie zur Einrichtungs-Avantgarde dazu gehören. Verbessert wurde auch ein eigentlich perfekter Stuhl von Walter Papst (Wilkhahn). Der Grund hier: Der Dreibeiner des Künstlers und erfolglosen Zukunftsforschers war auf dem Markt nicht mehr zu haben. Ein Jahr vor seinem Tod 2008 und ein halbes Jahrhundert nach Produktionsende hat Wilkhahn den Dreibeiner neu aufgelegt; nicht als bloße Kopie, eher als eine der Zeit angemessene Verfeinerung des ehemals robust auftretenden Stuhls. Das Einfügen eines eigenen Konstruktionsbodens in das Sitzbrett ermöglicht heute das elegante weil unsichtbare Verzapfen des Vorderbeins mit der Sitzfläche. Ebenfalls wurde durch die Überplattung der Sitzfläche durch die Hinterbeine die Stabilität des Stuhls insgesamt erhöht, und seine Leidens- und damit Lebensfähigkeit gesteigert.

Solche Eingriffe mögen auf der einen Seite die Überwindung eines aus heutiger Sicht erscheinenden Provisoriums sein, es verändert den Stuhl allerdings auch. Mit der Vergrößerung der Lehnen­fläche, die über weitere Öffnung optisch kompensiert wurde sowie der Verjüngung der Hinterbeine um wenige Grade, mit der neuen Einfarbigkeit und den matt gehaltenen Oberflächen hat sich der Stuhl vom Ursprung leicht entfernt, ohne allerdings das ganz Eigene an ihm zu verleug­nen. Denn noch immer lädt er dazu ein, ihn unterschiedlich zu besitzen, auf ihm die Sitzrichtung zu ändern, ohne ihn selbst zu bewegen. So stützt die neue Lehne wesentlich sanfter neben dem Rücken mal die Brust, mal die Seiten.

Er liegt gut in der Hand (trotz seines relativ hohen Gewichtes), er ist stark genug, über Jahre Patina anzunehmen, würdig zu altern. Die Variationsmöglichkeiten, ihn zu besitzen sind durch seine Verfeinerung vielleicht noch größer geworden; aufpassen allerdings muss man immer noch: Ein Dreibeiner taugt nicht zum Draufstellen!

Verdienen kann Wilkhahn nichts an ihm, der Verkaufspreis liegt unter den Herstellungskosten. Seine Neuauflage (mit dem Kunststoff-Schaukelpferd, ebenfalls von Papst) dient damit vor allem der Imagepflege. Hier allerdings fehlen dem alten Dreibeiner und dem noch jungen Nachfolger bis heute der große Auftritt. Es muss ja nicht ein solcher sein, wie ihn 1972 der Executive Work Chair von Eames in Reykjavik, Island hatte: Im Stellvertreterzweikampf im damaligen Kalten Krieg mit dem Protagonisten Bobby Fischer und Boris Spaasky, wollte der Russe erst dann antreten, wenn er wie Fischer auch auf dem Lederpolstersessel von Eames säße.

Nun, der Kalte Krieg ist vorbei, Spassky verlor, aber der Eames Stuhl ist unvergessen. Auf denn, Dreibein! Be. K.

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