Keine Polemik, aber versagt die Lehre
in der Architektur?

Seit Jahren werden Studierende als EntwerferInnen ausgebildet, um den Berufsethos hochzuhalten. Man vergisst ihnen aber zu erklären, dass die meisten von ihnen technische Dienstleister in immer komplexeren Bauvorhaben sein werden. Doch statt diese Situation­ als Chance zu begreifen, das Selbstverständnis und den Berufsstand zu hinterfragen, hat der Autor vielmehr das Gefühl, dass den ArchitektInnen ihre liebgewonnenen Traditionen viel wichtiger zu sein scheint, als die Zukunftsfähigkeit ihrer Profession.

Die Welt scheint in rasender Geschwindigkeit anders zu werden, oft komplexer, weshalb immer mehr Menschen den Überblick verlieren. Vieles erscheint planlos und getrieben, obwohl wichtige Entscheidungen anstehen. So auch in der Architektur, die von entfernt scheinenden Geistern eingeholt wurde und die immer noch Mühe hat, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Dieser Text erläutert zwei übergeordnete Zukunftsthemen mit Schnittstellen zur Architektur und leitet daraus konkrete Poten­tiale für die Architektenausbildung ab. Am Beispiel des Solar Decathlon, einem weltweit renommierten Studierendenwettbewerb, werden die Wirkungsweise und Vorteile dieser Ansätze erläutert.

Komplexität verstehen lernen!

Neben der Corona-Pandemie sind die Klimakrise und die Digitalisierung omnipräsent (siehe auch Beitrag Thomas Lehmann in DBZ 01|2020) und überschatten selbst alte Geister wie die Globalisierung und die Folgen des Kapitalismus. Der Umfang dieser Themen ist so groß und ihre vernetzten Abhängigkeiten so komplex, dass uns der Alltag lediglich mit Ausschnitten daraus konfrontiert und sich ein Gesamtverständnis in Grenzen hält. In der Architektur sieht es zum Glück etwas anders aus, denn vertraut man der Aussage aus den Eintragungsvoraussetzungen der Bundesarchitektenkammer (BAK von 2016), wird Bauen erst in der Zukunft komplexer.

Diese Aussage offeriert leider, wie wenig sich die BAK offensichtlich der ursächlichen Zusammenhänge ihres Fachs bewusst ist. Tatsächlich sind nicht nur Großprojekte wie Stuttgart 21, die Elbphilharmonie oder der Flughafen BER als komplex anzusehen, sondern ebenso jeder Bauprozess, gleich welcher Größenordnung. Ursächlich dafür ist ein Netzwerk von Interessenträgern und deren wechselseitige Abhängigkeiten im Planungs- und Bauprozess, die teils fest definiert, teils dynamisch miteinander verknüpft sind, sogar emergent wirken können – und die sich je nach Projektgröße potenzieren. Dass nationale Großprojekte symptomatisch an dieser Komplexität scheitern, kann deutlich belegt werden. Das dies aber kein zwingender Zusammenhang sein muss, kann rein aus organisatorisch, logistischer Sicht eindrucksstark am Flughafen „Beijing Daxing“ belegt werden, der in ähnlicher Größenordnung wie der BER ausgeführt (beide knapp 45 Mio. Passagiere/Jahr), jedoch in nur vier und nicht in 14 Jahren errichtet wurde.

Am Projektverlauf dieser Großprojekte wird deutlich, wie wichtig ein gemeinsames Verständnis über die Komplexitätsbeschaffenheit einer Projektaufgabe für einen erfolgreichen Abschluss ist. Dabei ist es nicht nur wichtig, frühzeitig und umfassend die Abhängigkeiten innerhalb eines Systems konkret zu definieren, sondern auch das Bewusstsein für die Tragweite von (nachträglichen) Eingriffen zu schärfen. Diese Notwendigkeit wird umso wichtiger, wenn „Zukunftsgeister“ verstärkt in den alltäglichen Fokus rücken und die BIM-Planungsmethode auch bei kleineren Bauprojekten Anwendung findet und z. B. vom Planungsteam ein Konzept für eine Langzeit Datenspeicherung gefordert wird. Für Bestandssanierungen durch die Öffentliche Hand wird das zur Mammutaufgabe, solange vergilbte Papierunter­lagen die Datengrundlage bilden. Spannend wird dieses Komplexitätsverständnis auch dann, wenn CO2-optimierende Entscheidungsmodelle ökonomische Relevanz gewinnen und dadurch aktiv in den Gestaltungsprozess eingreifen. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob das fehlende Bewusstsein für komplexe Zusammenhänge ein strukturelles Versäumnis oder ein unbewusstes Verdrängen ist –vielleicht sogar beides?

Das positive Zukunftsnarrativ

Ein weiteres wichtiges Thema ist ein fehlendes Zukunftsnarrativ, wie eine zukünftige Gesellschaft aussehen soll. Große disruptive Veränderungen, wie beispielsweise Kriege oder Wirtschaftskrisen, aber auch positiv konnotierte Veränderungen, wie die industrielle Revolution oder das Wirtschaftswunder, waren immer Ausgangspunkt von Zukunftsvisionen, die auch räumlich-architek­tonische Ansätze verfolgten. So bestand das Space Age der 1960er-Jahre vor allem aus technischen, aber auch baulichen Visionen, wie z. B. das Leben und Arbeiten auf fremden Planeten oder dem Meeresgrund aussehen könnte. Das Bauhaus ist in diesem Zusammenhang wohl die weitreichendste Architektur- und Gesellschaftsvision, Le Corbusiers Wohnmaschinen (Unité d’Habitation) mit ihrem Mikrokosmos aus Wohn- und Lebensraum eine jüngere und kleinformatigere. Diese Narrative stellten sich temporären oder lokalen Missständen entgegen und bildeten Leitlinien für ein gesellschaftliches Streben, aber auch das eigene Handeln. Wie wirkmächtig diese Narrative sind, zeigt die konsequente Vision der Kriegsgeneration von einem friedlichen vereinten Europa, das 75 Jahre später immer noch Strahlkraft besitzt. Je weiter sich der 2. Weltkrieg entfernte, um so positiver schien sich die Gesellschaft zu entwickeln und Globalisierung, Wohlstand und Konsum wähnten sich auf immer höheren Entwicklungsstufen. Durch die bahnbrechende ­Geschwindigkeit und Innovationskraft der Digi­­ta­lisierung schienen große Visionen sogar irgendwann überholt, denn anstelle ihrer rückten kurzlebige Trends, die nicht mehr auf Bedürfnisse reagierten, sondern diese oft erst erzeugten. In der Architektur sind diese oft visionären Einzel-trends ebenfalls zu verzeichnen – sei es der 3D-Druck eines Hauses aus Beton, die durch Roboter „geschweißte“ Brücke aus Metall oder das erste Cradle to Cradle-Wohngebäude. Es steht außer Frage, dass diese Ansätze die Architektur oder sogar die Gesellschaft bereichern, vielleicht sogar revolutionieren können, es bleibt aber weiterhin offen, wie die Zukunft der Architektur und des Bauens als Ganzes aussehen soll. Dabei geht es vor allem darum, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, denn die bisherige Art zu Bauen und deren Einfluss auf Lebensmodelle ist für ein Drittel der globalen CO₂-Emissionen verantwortlich. Neben ganzheitlich, technischen Lösungsansätzen ist auch ein grundlegendes ­architektonisches Narrativ notwendig, wie etwa eine emissionsneutrale Urbanität aussehen könnte.

Doch an welchem Punkt ist die Lehre gescheitert?

Jede Diskussion über die Ausbildung von Architekten fängt mit einer elementaren Frage an: Entwurf oder nicht Entwurf? An dessen Stellenwert in der Lehre scheiden sich die Geister und es setzt oft ein Beißreflex ein. Die Argumentation: „Das ist die Grundlage unseres Fachs“ lässt sich jedoch leicht mit einer hochschuldidaktischen Fragestellung entschärfen bzw. dekonstruieren: Was sind die Ziele des Studiengangs Architektur? Plötzlich gesellen sich zum Entwerfen eine Vielzahl an krea­tiven, technischen und soziokulturellen ­Inhalten, die gleichwertig nebeneinander einen generalistischen Ansatz beschreiben. Das Erstaunliche daran ist, dass alle Berufsbeschreibungen, global angefangen bei der UNESCO Charta über die Ausbildung von Architekten, den Berufsanerkennungsrichtlinien der EU bis zum nationalen Muster Architektengesetz diesen breitgefächerten Themenkontext genauso wertungsfrei wiedergeben, lediglich die BAK formuliert einen expliziten Entwurfsschwerpunkt. Dieser wird natürlich inhaltlich von den Hochschulen erfüllt, um den AbsolventInnen auch zukünftig die Kammerfähigkeit zu gewährleisten. Ein struktureller Ansatz wäre es daher, unter Anerkennung einer bereits existenten Komplexität im Planungs- und Bauprozesse, den Schwerpunkt „Entwerfen“ aus den Eintragungsvoraussetzungen der BAK  zu streichen. Alternativ könnte die Verantwortung über den Umfang des Themenkomplexes Entwerfen auf die individuelle Studienganggestaltung der Hochschulen übertragen werden. Neben sehr kreativen Entwurfs- und Gestaltungsschulen bietet dieser Ansatz auch die Möglichkeit, einen eher technisch orientierten Fächerkanon anzubieten. Ein Schelm, wer dabei die klassischen Universitäts- und Fachhochschulausrichtung im Blick hat. Als Konsequenz aus den einleitenden Themenkomplexen wird deutlich, warum eine exklusive Fokussierung auf den Entwurf in der Lehre nicht zielführend sein kann und wie wichtig es ist, dass an diese Stelle ein generalistisch ausgelegtes Komplexitätsverständnis rückt, verbunden mit dem Bewusstsein für die gesamtgesellschaftliche Verantwortung von zukünftiger Architektur.

Die Umsetzung könnte mit einem übergeordneten Netzwerk-Fach realisiert werden, das einen ersten Überblick und Einordnung über die Architektur und ihre grundlegenden TeilhaberInnen und Verknüpfungen aufzeigt. Darauf aufbauend wird das Thema Vernetzungen und Abhängigkeiten in jedem Einzelfach, individuell angepasst, als Einstiegsthema zu Semesterbeginn gelehrt. Das Entwerfen bleibt weiterhin elementarer Bestandteil der Ausbildung, wird aber vielmehr Teil jeder Studiengang-Veranstaltung sowie der reinen Entwurfsfächer. Dieser sukzessive Kompetenzaufbau sollte aufeinander aufbauend gelehrt und aktiv angeleitet werden, weil eine reine, kontextlose Informationsvermittlung nicht automatisch zur Entstehung und Vernetzung von Wissen beiträgt. Ein losgelöstes Auswendiglernen von bauphysikalischen Kennwerten erzeugt lediglich einen unreflektierten Anwender, ebenso wie eine BIM-Lehre, die kontextlose Lebenszyklusdaten als einen von vielen auszufüllenden Feldern erklärt, diese wieder vergessen lässt. Das Ergebnis dieser Art von Wissensvermittlung sind Studierende, die von Informationen erschlagen wurden und in der Regel am Ende des Studiums nicht einmal wissen, dass es Normen und Regelwerke zur Vertiefung dieser Informationen gibt. Erst mit einem Verständnis und der Durchdringung von grundlegenden Zusammenhängen verbunden mit einem Selbstverständnis für Kreativität kann Architektur entstehen, die darüber hinaus zum Narrativ taugt. Dabei wirken Narrative, die bereits in der Studien­zeit verinnerlicht und vernetzt werden, parallel zum Studium als Multiplikator auf Kommiliton­Innen und das Umfeld und bilden mit Eintritt in das Berufsleben selbstverständliche Leitlinien. Das Erlernen dieser Kompetenzen kann jedoch nicht erst in der zweijährigen Anerkennungsphase nach dem Studium beginnen, da Büros in der Regel weder die Zeit, noch entsprechende didaktische Kompetenzen dafür besitzen und die ­jungen AbsolventInnen schwerpunktmäßig Büro- und Planungsabläufe erlernen. Ein Kom­plexitätsverständnis entsteht daher meist nur als Nebenprodukt aus einem Learning-by-Doing. Über diesen strukturellen Ansatz könnten Hochschulen viel individueller auf die Heterogenität der ArchitektInnentätigkeit eingehen, gleichzeitig einem EU-Anspruch an die Beschäftigungsfähigkeit gerecht werden und zudem flexibel auf sich wandelnde Anforderungen des Berufsbilds reagieren.

Mit positivem Beispiel voran

Beim Solar Decathlon, dem wohl bekanntesten Studierenden-Wettbewerb zum Thema Nachhaltigkeit weltweit, ist das Narrativ einer Architekturvision für die Zukunft eines der Kernthemen. Ziel des Wettbewerbs ist es, mit einem interdisziplinären Studierenden-Team zwei Jahre lang ein nachhaltiges Gebäude zu entwerfen, zu planen und final zu errichten. Über eine kontinuierliche Verknüpfung von Entwurf und Architektur mit Themen wie Gebäudetechnik und Energieautarkie, aber auch mit Ökologie, die Wohnraumperformance und erstmals auch einer städtebaulichen Einbindung wird dieser Zukunftsnarrativ fokussiert und ein Gesamtverständnis sowie Netzwerkkompetenz aufgebaut. Die grundlegende Wettbewerbsstruktur ist aufeinander aufbauend angelegt und kommt einem realen Bauablauf sehr nah. Dabei lernen die Studierenden in iterativen Prozessen einen selbstverständlichen und kritischen Umgang mit den Konsequenzen aus ihren Entwurfs- und Planungsentscheidungen. Wichtige kompetenzorientierte Lerneffekte bieten die holistischen und interdisziplinären Ansätze des Projektes, die von der Entwicklung des Gebäudekonzeptes und der planerischen Umsetzung unter BIM-Gesichtspunkten, über die Berücksichtigung von Statik, Gebäudetechnik und Nachhaltigkeit bis hin zur realen, selbstständigen Fertigung eines voll funktionsfähigen Demonstrators reichen.

Darüber hinaus werden die Studierenden zwar von einem Hochschul-Team begleitet und systematisch angeleitet, um für wichtige Abhängigkeiten und Verknüpfungen sensibilisiert zu ­werden. Grundsätzlich erfolgt die gesamte Be­arbeitung aber proaktiv und selbstständig von den Studierenden. Obwohl das Projekt noch lange nicht abgeschlossen ist, lassen sich die beschriebenen Mehrwerte bereits jetzt schon umfassend bei den Studierenden erkennen.

Wichtiger Bestandteil des Wettbewerbs ist darüber hinaus die Kommunikation über die neu konzipierte Zukunftsarchitektur, die projektbegleitend das Thema Nachhaltigkeit mit seinen Schwerpunkten CO2-Emissionen, Energieautarkie und Rezyklierbarkeit der Baustoffe in einen urbanen Architekturkontext bringt. Neben einem umfassenden Kommunikationskonzept wird dieses Narrativ über ein Fundraising zur Projektfinanzierung und Firmenbindung verstärkt. Aus der Erfahrung vergangener Wettbewerbe zeigt sich, dass Studierende auf Grund dieser erlernten Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt heißbegehrte und wertvolle Arbeitskräfte sind. Dadurch wird das Selbstverständinis von Komplexität und das positive, nachhaltige Narrativ des Solar Decathlons in die unterschiedlichen Firmen hineingetragen.

Und nun? – Der Versuch eines Fazits

Ist der/die ArchitektIn nun EntwerferIn, NetzwerkerIn oder vielleicht doch wieder nur GeneralistIn?

Diese Frage als eine Art „Theory of everything“ zu beantworten, war und ist auf Grund der großen Heterogenität des Berufsfelds – insbesondere durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – unmöglich und war auch nicht Ziel dieses Beitrags. Es ist jedoch genau diese schon immer exis-tierende Heterogenität des Berufsfelds, mit ihren stetigen Veränderungen, die eine optimale Basis für ein Zukunftsverständnis schafft und darin unbewusst die Beschreibung eines komplexen Netzwerks beinhaltet. Der Artikel will vor allem jedoch sensibilisieren, wo die Architektur, aber auch die Gesellschaft Verständnisprobleme bei einem Zukunftsbewusstsein aufweist und Nachholbedarf hat.

Sollte die Architektur – wie ich finde zurecht –auch weiterhin ihre Schwerpunktargumentation auf einen Generalismusanspruch legen, braucht es zukünftig mehr denn je neben dem gestalterisch-kreativen Potential auch die Kompetenzen eines Network-Natives, einer mündigen NutzerIn und GestalterIn innerhalb des komplexen Systems „Bau“. Dazu gehört aber auch ein Narrativ über die Zukunft unserer Profession: Welche Themen definieren die ArchitektInnen und die Architektur der Zukunft? Wer bin ich heute und wer will ich morgen sein, wenn nicht nur EntwerferIn?

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