Gelagert und gestapelt
Neues Archiv,
Bordeaux/FR

Archivieren, Sortieren und Stapeln – diese Funktionen übertrugen die belgischen Architekten Robbrecht en Daem in ihr Konzept für die „Archives Municipales“ in Bordeaux. Der Winkel aus Alt und Neu mit seinem öffentlichen (Vor-)Platz ist eines der ersten Projekte im neuen Stadtteil Bastide-Niel.

„Es ist ein sehr, sehr lang gestreckter Raum und ein sehr hoher Raum, ein ruhiger Raum zum Studieren und in sich gehen“, beschreibt Architekt Paul Robbrecht den Lesesaal im neuen Stadtarchiv von Bordeaux. Wie ein Bücherstapel ragen die Archivräume aus Sichtbeton über den Lesern in den Raum. Wie eine „Box in der Box“ haben die Architekten sie zwischen die historischen Fassaden des ehemaligen Getreidespeichers gestellt. „Das Ganze ist das Ergebnis eines öffentlichen Wettbewerbs mit insgesamt 119 Teilnehmern, den wir im Jahr 2010 gewonnen haben“, ergänzt Frédéric De Vylder. Er ist sowohl Architekt als auch Bauingenieur und hat das Projekt geleitet. „Das Prinzip für die Tragstruktur haben wir im Büro entwickelt“, fährt er fort. „Der markante stützenfreie Luftraum im Lesesaal ist quasi der Negativraum unserer Konstruktion.“ Da die einzelnen Archivräume aus Brandschutzgründen nicht größer als 200 m² sein dürfen, haben die Planer den 78 m langen und 18 m hohen Raum pro Geschoss in vier Segmente aufgeteilt. Zwischen den einzelnen Archivräumen bilden sich schmale Fugen, die vom Saal mit einer Brandschutzverglasung abgetrennt sind. Die Seitenwände der einzelnen Archivräume dienen als 3,20 m hohe Kragträger. Dazwischen sind 13 m lange vorgespannte Betonrippendecken gehängt mit einer Nutzlast von 1300 kg/m². Auf der Rückseite der Archivräume liegen die Erschließungsgänge für die Angestellten, die im Archiv arbeiten. Durch den Versatz der einzelnen Geschosse entstehen für alle spannende Ein- und Ausblicke. „Wir wollten, dass die Leser mitbekommen, dass in dem Archiv auch gearbeitet wird und dort nicht nur Dinge lagern“, betont der Projektleiter. „Und für die Angestellten, die dort arbeiten, wollten wir auch den Bezug zwischen außen und innen sichtbar machen. Von den Gängen können sie sowohl ins Freie als auch in den Lesesaal schauen.“

Herausforderungen auf dem Weg

Den Wettbewerb gewannen die Belgier auch, weil sie in ihrem Entwurf einen öffentlichen Platz als Treff- und Anziehungspunkt im Quartier freigehalten hatten, obwohl es eine Vorgabe im Wettbewerb ­gewesen war, direkt auf dem Grundstück Platz für eine spätere Archiv-Erweiterung vorzusehen. Zu dem Zeitpunkt gab es noch keinen Masterpan für das neue Quartier Bastide-Niel auf dem ehemaligen Industriegebiet rechts der Garonne. „Erst zwei Jahre später, als wir schon die Genehmigungsplanung machten, gab es einen städtebaulichen Wettbewerb, den MVRDV aus Rotterdam gewannen. In deren Entwurf existierte unser Archiv-Platz nicht mehr“, erinnert sich Paul Robbrecht. „Es gab lange Diskussionen. Zum Glück war der Bürgermeister von Bordeaux, Alain Juppé, von Anfang an für unseren Entwurf.“ Schließlich einigte man sich, den Archiv-Platz an der noch offenen Ecke mit einer Pergola zu begrenzen, die als Rankgerüst mit Glyzinien zum Verweilen im Schatten einlädt. Ein Teil der Pergola dient als Stellplatz für Fahrräder und als Behindertenparkplatz. „Es war zunächst angedacht, Photovoltaikmodule auf der Pergola anzubringen“, sagt Frédéric De Vylder. „Doch die Fläche wäre zu klein, um lohnenswert Strom zu produzieren. Aber wir nutzen den Platz, um die Archivräume zu kühlen.“

Energiedesign und Akustik

„Für die geothermische Nutzung wurde ein Feld von 32 vertikalen Erdwärmesonden 80 m tief unter den Platz in die Erde gebohrt. Wir nutzen die Erdwärme mit Hilfe einer Wasser-Wasser-Wärmepumpe “, beschreibt Stéphane Gauthier vom Ingenieurbüro BET Louis Choulet das Energiekonzept. Er ist verantwortlich für die Planung der Gebäudetechnik. Die Lufttemperatur in den Archivräumen liegt im Durchschnitt bei 18 °C und darf nur sehr langsam in einem Bereich von 16 – 24 °C verändert werden (+/- 0,5 °C/24 Std. bzw. +/- 2 °C/Woche). Das Gleiche gilt für die Luftfeuchtigkeit in den Archivräumen, die zwischen 40 % und 55 % variieren darf bei einer Angleichung von +/- 1 % in 24 Stunden bzw. +/- 5 % pro Woche. Jeder Archivraum wird einzeln gesteuert über eine „close control unit“. Das Entwurfsprinzip der „Box in der Box“ wirkt gebäudetechnisch, um große Temperaturschwankungen in den Archivräumen zu vermeiden. Außerdem sind die historischen Fassaden von innen neu gedämmt worden. Um Glasflächen zu minimieren und zugleich die historischen Mauern gestalterisch hervorzuheben, haben die Planer die Fenster in die Dämmebene zurückversetzt und die Glasflächen verkleinert, indem sie ­einen Teil der Fensteröffnungen mit Holz verkleideten. Nach Süden, Westen und Osten schützen neue, feststehende Holzlamellen die Fenster in den historischen Öffnungen vor dem Sonnenlicht und erinnern zugleich an die früheren Holzschiebeläden. Als Schallschutzmaßnahme sind die Innenseiten der Steinfassaden im Lesesaal mit einer hölzernen Lamellenstruktur verkleidet. Erst auf den zweiten Blick fällt das Farbspiel ins Auge, das die farbig gestrichenen Lamellenseiten erzeugen. „Es erinnert uns an pointilistische Gemälde“, meint Architekt Frédéric De Vylder. Schall schluckt auch der markante blaue Teppichboden im Lesesaal. Auf das Mobiliar ist der Architekt besonders stolz: „Wir haben alles selbst entworfen; sogar die Leseleuchten an den Tischen haben wir weiter entwickelt.“

Büros und Arbeitsplätze

Die Mitarbeiter des Archivs haben ihre Büros in dem neuen Trakt, der im rechten Winkel an das historische Gebäude anschließt. Hier befinden sich auch der Haupteingang für das Archiv sowie ein Ausstellungsbereich und ein kleiner Konferenz- und Besprechungsbereich. Vom Vorplatz gehen alle zunächst am Altbau entlang in den Neubau. Die Besucher passieren den Empfang und biegen dann rechts in einen schmalen, niedrigen Übergangsbereich ab. Erst dann erreichen sie den beeindruckenden Lesesaal – mit einem „Aha-Effekt“. Auf getrenntem Wege gehen die Angestellten im ersten Obergeschoss über eine Brücke in den Altbau, um sich von dort auf die Gänge zwischen den Archivräumen zu verteilen.

Aus Kostengründen ist der Bürotrakt aus Betonfertigteilen gebaut mit einer Fassade aus Betonsandwichelementen. „In den historischen Speicher fuhren früher die Züge direkt hinein, um dann dort be- oder entladen zu werden. Es war ein sehr langer Raum, geprägt von dem hölzernen Gebälk seiner Tragstruktur. Leider wurde das alles bei einem Feuer zerstört. Wir wollten nun in dem Neubau einen ähnlichen Raumeindruck wieder erschaffen“, erklärt Frédéric De Vylder. „Nur statt Holz reihen wir Stahlbetonträger hintereinander.“ Obwohl es in Bordeaux sehr heiß werden kann, waren die Mitarbeiter bereit, auf Klimaanlagen zu verzichten. Denn sie können gut querlüften.

Materialien und Oberflächen

Die Betonsandwichelemente in der Fassade sind außen von Hand gehar­kt und innen glatt. Dazu erinnert sich der Architekt schmunzelnd: „Die Hersteller der Elemente wollten das Harken zunächst nicht angehen, weil sie meinten, es könnte nicht gleichmäßig werden. Aber genau das wollten wir ja.“ Neben Beton und Holz – Pinienholz aus der Region „Les Landes“ nahe Bordeaux – spielt ein weiteres Material eine wichtige Rolle.

Dazu geht es zurück in den historischen Teil: Um Energie zu sparen und trotzdem Tageslicht in das Archiv und den Lesesaal zu lenken, ist die Nordfassade, die sich aus den gestapelten Archivräumen ergibt und über die historischen Steinmauern hinausragt, mit einer transluzenten Fiberglasfassade verkleidet. Von außen mag sie gestalterisch etwas befremden. Von innen jedoch ergibt sich ein sehr schönes, diffuses (Ober-)Licht. Dieses Material haben die Planer auch in den Fassaden entlang der Archivgänge für die Belichtung eingesetzt.

Die Architekten erinnert es an Transparentpapier und somit an historische Dokumente, die in Archiven gelagert werden. Robbrecht en Daem haben schon mehrere Archivgebäude realisert. Vom Archiv in Bordeaux ist Paul Robbrecht überzeugt: „Es ist ein Gebäude, das unsere weitere Arbeit inspiriert.“ Susanne Kreykenbohm, Hannover

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