Existenzoptimum
Wohnhaus Paradiesgasse, Frankfurt a. M.

Eine rigide Baugestaltungssatzung in Alt-Sachsenhausen und die marode Bausubstanz ließen ein 160 m² großes Grundstück in Frankfurt a. M. für Jahrzehnte brach liegen. Bis Marie-Theres Deutsch Architekten mit einer Bauherrengemeinschaft sich dem Grundstück annahm und das Unmögliche möglich machte, allen Widerständen zum Trotz: zwei großzügige Wohnungen auf dem kleinen Grundstück entstehen zu lassen – auf sechs Geschossen.

Zwischen mittelalterlicher Bausubstanz und saniert verputztem Fachwerkhaus schiebt sich das von der Architektin Marie-Theres Deutsch geplante Stadthaus – eine Neuinterpretation der umgebenden Bebauung in Alt-Sachsenhausen. Sechs Geschosse streben auf dem 8 m schmalen und 20 m tiefen Grundstück in die Höhe. Um ausreichend Licht in die Wohnungen zu holen, bebaute die Architektin nicht das gesamte Grundstück, so dass ein L-förmiger Innenhof auf der der Straße abgewandten Seite entstand. Mit „kleinen Kniffen und Tricks“, wie Deutsch selbst sagt, die selbstverständlich zu sein scheinen, entstanden hohe Räume – 2,8 bis 2,74 m – und großzügige Wohnungen auf wenigen Quadratmetern – 45 bis 75 m² pro Etage. Dabei sind sie vielmehr aus einer überlegten Planung hervorgegangen. Die auskragenden Erker in den oberen vier Geschossen erweitern die Wohnfläche um bis zu 15 %. Ein minimaler Fußbodenaufbau von 8,5 cm lässt hohe Decken zu. Um 180° aufschwingende ­Türen minimieren die Verkehrsflächen in den Etagen. Der 80 x 80 m große Aufzug, der kleinste seiner Produktreihe, ohne Innentür, aber mit scharfer Lichtschranke macht die ersten vier Etagen barrierefrei. Alle Geschosse sind mit Bad und Küche unabhängig voneinander. Versetzt Deutsch eine Tür, sind alle drei oberen Geschosse miteinander verbunden; inspiriert von den Grundrissen der 1920er-Jahre, die ein komfortables Wohnen am „Existenzoptimum“, laut Deutsch, möglich machen.

Wagt Mut!

Dass sich mittlerweile mehr Architekten nach Alt-Sachsenhausen wagen, trotz seiner maroden Bausubstanz und der rigiden Baugestaltungssatzung, hängt mit dem Förderprogramm des Stadtplanungsamts zusammen. Weisen die Neubauten vorwiegend Wohnungen auf, wird der Quadratmeter gefördert – die Maßnahme soll Investoren locken. Die Reglementierung in der Gestaltung schrecke Investoren ab, sagt Deutsch. Aus dem Jahr 1979 orientiert sich die Satzung am alten Bestand, um ein homogenes Stadtbild im Quartier zu erhalten. Deswegen sind unter anderem weder Flachdach noch Dachterrassen oder breite Gauben bei Neubauten erlaubt. Sie ist der Grund, weswegen Deutsch kein Geländer an ihrem Stadt überblickenden Dachgarten anbringt, den sie gerne als Dachterrasse umnutzen würde – maximal eine extensive Begrünung ist erlaubt. Oder warum eine Glasfuge die Dachgaube zerteilt. Der Grund: Die Breite einer Einzelgaube darf nicht mehr als ein Viertel der gesamten Firstlänge betragen. Die Fuge aus Doppelverglasung überzeugte die Baubehörden erst, nachdem Deutsch sie mit der Fassadenfarbe koloriert – und ein homogenes Erscheinungsbild mit der Fassade entstand – die Wärmedämmwerte hält Deutsch ebenfalls ein. Das gesamte Gebäude lebt von den auferlegten Begrenzungen. Denn sie verlangen unkonventionelle Lösungen. Das sieht Deutsch auch so: „Der Mensch wächst an seine Aufgaben, besonders an den Beschränkungen.“ Die geforderten Zwerchgiebel – ein typisches Stilelement in Alt-Sachsenhausen – sind auf den flach ausgeführten Gauben verankert. Um diese Elemente umzusetzen benötigte Deutsch ein gutes Team an Fachingenieuren, das sie unter anderem in den Ingenieuren Bollinger + Grohmann und dem Brandschutzexperten Oliver Hilla fand.

Unvorhersehbarkeit – gemeistert

Von Anfang an war Klaus Bollinger von Bollinger + Grohmann involviert, möglichst Material sparend Vorschläge für die Konstruktion zu machen. Auf Zuruf kam Klaus Bollinger derweilen auf die Baustelle. Mit ihm verbindet Marie-Theres Deutsch eine jahrelange Freundschaft. „Mit einem guten Stamm von anerkannten Fachingenieuren kann man sich in solche Gegenden wagen“, sagt Deutsch. Und meint damit die Unvorhersehbarkeit des Bauvorhabens. So waren Teile der Nachbarhäuser nicht gegründet, was die Bauzeit verlängerte und den Bau verteuerte. Ein L-förmiger Betonwinkel trägt nun den Neubau und die Brandschutzwand des Nachbarn. „Ich brauche Leute, die beweglich sind“, sagt Deutsch – Fachingenieure wie Bauherren – die Bauherrengemeinschaft ist mittlerweile in eine Eigentümergemeinschaft übergegangen. Die Ar­chitektin und die Fachingenieure optimierten das Gebäude bis auf der Baustelle. Knapp drei Jahre dauerte das Projekt von der ersten Idee bis zur Fertigstellung, normalerweise sind es bei einem Projekt dieser Größe eineinhalb Jahre. Doch Beharrlichkeit zahlt sich aus! S.C.

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