Ein Turm aus lauter BäumenWas Baubotanik ist und warum sie eine Zukunft haben könnte
Er ist bescheiden hoch und die Geschosszahl des „Turm“ genannten Bauwerks ist weit davon entfernt, ein Hochhaus zu beschreiben. Und doch möchte sich dieser Eindruck einstellen angesichts der Konstruktion des Turmes, der zur Zeit bei Wald, einer 1000-Seelen-Gemeinde im Landkreis Sigmaringen auf der grünen Wiese Wurzeln schlägt und grün beblätterte Äste treibt.
Bereits seit mehreren Jahren beschäftigen sich Wissenschaftler der Forschungsgruppe Baubotanik am Institut Grundlagen Moderner Architektur und Entwerfen (Igma) der Universität Stuttgart damit, Tragstrukturen aus lebenden Holzpflanzen zu bilden. Nach kleineren Projekten wie zuletzt dem „Steg“ ist der etwa 9 m hohe „Turm“ mit drei Ebenen (je ca. 8 m² Grundfläche) das bisher anspruchsvollste Bauwerk, das auf zahlreiche Erfahrungen eigener wie fremder Projekte zurückgreift. Der „Turm“ versteht sich als Prototyp einer Konstruktionsweise, er soll mit seinen Vorgängerbauten und zahlreichen Studien/Versuchen die Forscher in die Lage versetzen, praxisnahe Tests durchzuführen; von deren Ergebnissen sich die Gruppe um Institutsleiter Prof. Gerd de Bruyn Fortschritte für die Forschung erwartet. Forschung?
Tatsächlich ist das Bauen mit (Baubotanik) und nach (Bionik) der Natur eine Praxis, die immer wieder in der Architekturgeschichte auftaucht; und immer wieder verschwindet. Zwar ist letztere, die Bionik, welche natürliche Techniken für Hochleistungsanwendungen interpretiert (Oberflächen, Micro- wie Macro-Strukturen, Effizienz etc.) schon länger als auch ökonomisch verwertbar anerkannt, dennoch haftet ihr – vielleicht gar selbstverschuldet – immer etwas von Sience Fiction an; und wer möchte da schon investieren?
Noch schwerer hat es die Baubotanik, deren Wurzeln in der Gärtnerei auszumachen sind (Pflanzenveredlung aus dem 15. Jahrhundert bis heute). In der Architektur kann man die Arbeiten von James Hall nennen. Der Schotte rekonstruierte schon im 18. Jahrhundert eine Kathedrale mit Weidenruten und versuchte damit – gerade durch den erfolgen-
den Blattaustrieb – die Formensprache und Ornamentik der Gotik herzuleiten. Der deutsche Gärtner Arthur Wiechula (1868-1941) hinterließ uns sein Buch „Wachsende Häuser aus lebenden Bäumen entstehend“, das in zahlreichen Illustrationen eine aus Pflanzen gebaute Welt vorgaukelte. Vor allem in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Hochzeit einer ideologisch gefestigten Umwelt-
bewegung kam es zu ersten, man möchte
sagen radikalen Ansätzen, Architektur und Natur zu verschmelzen. Hier wäre vor allen das Atelier „Sanfte Strukturen“ um den Architekten Marcel Kalberer zu nennen, das seit 1984 zahlreiche Weidenbauten realisiert.
Doch alle diese „Biotekten“ wie auch
Rudolf Doernach oder Konstantin Kirsch, setzten und setzen auf natürliche Materialien und Prozesse und die Realisierung eines Bauwerks. Das Ziel der Forscher der Forschungsgruppe „Baubotanik – Lebendarchitektur“ ist eine nutzbare Architektur nicht, sie wollen ihre baubotanischen Konstruktionen als Biofakte (Karafyllis) verstanden wissen, deren Potentiale sie in unterschiedlichen Konstruktionsmodellen auszuloten versuchen. Dabei sind Beobachtungszeiträume von Jahrzehnten möglich, schließlich wachsen und verwachsen Bäume nicht über Nacht.
Der „Turm“ bei Wald ist ein fachwerkartig geformter Organismus aus mehreren hundert jungen, nur zwei Meter großen Silberweiden. Nur die untersten Pflanzen wurden in den Erdboden gesetzt, alle anderen wurzeln in von einem temporären Stahlgerüst getragenen Pflanzcontainern. Wenn die untersten Pflanzen des baubotanischen Turms in wenigen Vegetationsperioden ein leistungsfähiges Wurzelsystem im Erdboden entwickelt haben und erste Verwachsungen die nötige Aussteifung erzeugen, werden die Pflanzcontainer entfernt. Sobald die lebende Struktur stabil genug ist, um die drei einwachsenden Ebenen aus verzinktem Stahl tragen und die Nutzlasten des Bauwerks übernehmen zu können, wird das Gerüst
entfernt; die Forscher setzen fünf bis zehn Jahre an. Dass der Bau dabei seinen ganz
eigenen Charakter ausbildet, interpretieren die Projektbeteiligten als besondere ästhetische Qualität. Die von ihnen so genannten „teilautonomen Wachstumsprozesse“ können als kontinuierliche Anpassung an ein sich ständig änderndes Ökosystem verstanden werden.
Der „Turm“ steht bereit, gebaute Realität zu werden, die Zeit bis dahin kann genutzt werden für Beobachtung, Rückschlüsse und das Nachdenken über nachhaltiges Bauen und explodierende Ansprüche. „Beobachtungen machte auch unser Autor Rüdiger Sinn, den wir in der letzten Woche vor Ort schickten. Unter DBZ.de schreibt er über den „Turm“ und zeigt aktuelle Ansichten von der Baustelle. Unter „Der Turm“ reinschauen. Oder einfach mal hinfahren. Be. K.