Durch die Brille der Tektonik betrachtet
Ein Gespräch mit Udo Garritzmann, Garritzmann Architecten, Rotterdam

Arno Lederer, Hilde Léon und Udo Garritzmann, die Mischung der Referenten auf dem 8. ABC-Architektentag im nordrhein-westfälischen Hörstel schien vielversprechend zu sein. Was Arno Lederer an Weltensichten auf das richtige Bauen mitbrachte und Hilde Léon an zeitgenössisch eleganter Architektur, brachte der Theoretiker und Architekt, Udo Garritzmann, vielleicht ungewollt auf den Punkt: Bauen bedarf eines genauen Hinschauens, einer Bildung und lebenslangen Schulung in Sachen der Tektonik. Tektonik?

Lieber Udo Garritzmann, Tektonik des Lasttragens, das klingt sehr theorielastig. Passt das zu den Statements und Werkberichten von Arno Lederer und Hilde Léon?

Udo Garritzmann: Klar passt das! Den Begriff Tektonik des Lasttragens habe ich für architektonische Positionen vorgeschlagen, die sich auf das Darstellen von Tragen und Getragen werden beziehen, also mit architektonischen Elementen wie Stütze und Balken, Pilaster und Gesims, Pfosten und Riegel arbeiten. Karl Bötticher (1806–1889) hat mit „Die Tektonik der Hellenen“ (1844) das wohl umfassendste Gedankengebäude zu dieser Position verfasst.

Der Begriff ist von mir so gewählt, da ich ihn neben eine andere tektonische Position stellen möchte, die ich als Tektonik der Bekleidung bezeichne und die auf das Gedankengut von Gottfried Semper (1803–1879) zurückgeht. Anstatt sich auf das Darstellen des Lasttragens zu beziehen entwickelt diese Tektonik ihre formalen Motive aus der meisterlichen Beherrschung des Materials selbst.

Tektonisches Denken: Wer braucht das? In drei Sätzen ...

In drei Sätzen?! Wir, die Architekten, brauchen die Tektonik, wir tragen das Wort ja schon in unserer Berufsbezeichnung. Sich mit Tektonik zu beschäftigen bedeutet, sich der Spezifität des Mediums Architektur bewusst zu sein. Es geht nicht um Pigment oder Pixel, sondern um Material und Bauglieder, die schön zusammengefügt werden müssen.

Du hast in deinem Vortrag angedeutet, dass Theorie – zumindest für dich – immer auch eine Rückkopplung in die Baupraxis hat. Kannst du das erläutern?

Dass ich mich mit solchen vielleicht im ersten Anschein theoretischen Aspekten des Bauens beschäftige, hat den Grund, dass es meine Arbeit verändert oder zumindest die Art und Weise, wie ich über das Entwerfen nachdenke. Mir gibt die Theorie einen geschulteren Blick auf die Arbeiten anderer Architekten. Wenn man mit der Brille der Tektonik – differenziert in Lasttragen oder Bekleidung – die Gebäude von Kollegen anschaut, erlaubt das Rückschlüsse auf das eigene Entwerfen.

Stimmst du dem Statement von Arno Lederer zu, der gerade feststellte – und als Mangel anprangerte –, dass Architekten heute viel zu wenig wissen, um wissentlich zu entwerfen?

Ich weiß nicht genau wie Arno Lederer darüber denkt, aber was mich betrifft gehört das tektonische Denken zu solch einem architektonischen Wissen. Und das ist, so weit ich das wahrnehme, wenig in der Lehre verankert. In meinem Studium ist das Wort Tektonik kein einziges Mal gefallen. Was ich für einen Fehler halte, denn das tektonische Denken ist durchaus fruchtbar für die Formfindung.

Ist Backstein das Material deiner Arbeit?

Nein. Und ich muss zugeben, dass ich erst ein Backsteinprojekt realisiert habe, Ersatz für eine Glasfassade der Philharmonie in Harlem.

Aber warum mag ich das Material?! Backstein ist nachhaltig, kos-tet wenig im Unterhalt und man kann mit ihm – und hier gebe ich Hans Kollhoff sehr frei wieder – einen emotionalen Bezug herstellen. An glatten Kisten rutscht das Auge ab, kann sich nicht festhalten. Das ist übrigens auch ein Grund, warum historisierende Architektur so erfolgreich ist. Da passiert einfach mehr!

Hilde Léon sprach gerade von der Behäbigkeit des Backsteins. Meinte sie damit die gute alte, aber eben zugestaubte Zeit?

Vielleicht. In der Logik des Backsteinbaus schwingt ja viel Geschichte mit. Heute noch muss man an Problemen innerhalb von Verbünden arbeiten, die mir zeitlos erscheinen. Behäbigkeit ... Ich würde eher von Möglichkeit sprechen, der Möglichkeit, Architektur in den unterschiedlichen Maßstäben zu denken.

Ist tektonisches Denken auf alle Gebäudetypologien anwendbar?

Grundsätzlich ist der tektonische Ansatz unabhängig vom Gebäudetypus anwendbar. Er ist, auf die Architektur bezogen, universell.

Hat deine Wahlheimat etwas mit deiner Materialvorliebe zu tun?

Ich sagte es schon, dass ich in meinem Studium nichts über Tektonik vermittelt bekam, ein Backsteingebäude habe ich nie entworfen. Bei OMA war der Backstein natürlich kein Thema, eher im Gegenteil ...

... war der Backstein da verboten!

Beinahe schon ... Die Tatsache, dass ich mich für die Tektonik der Bekleidung so sehr interessiere, liegt dann vielleicht doch an meiner Wahlheimat. Zumindest die historische Backsteinarchitektur ist in Holland wesentlich dekorativer als die deutsche, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Aber auch so ein fantastisches Gebäude wie der Sprinkenhof von den Brüdern Gerson und Fritz Höger kann ich besser mit dem Begriff Tektonik der Bekleidung fassen.

Zur Tektonik komme ich über mein Interesse am Ornament. Die Hauptwerke von Bötticher und Semper waren ja Lehrbücher über Ornamentik. Sie erörtern formale Prinzipien des Ornaments ohne Vorlagenbücher sein zu wollen. Ich glaube, dass man mit tektonischem Denken beider „Richtungen“ eine reiche Formensprache entwickeln kann, die viel für die Erfahrung des Betrachters anbietet ohne dabei gleich historisierend zu sein.

Die Tektonik der Bekleidung bietet da vielleicht noch andere Möglichkeiten als bis jetzt von Hans Kollhoff beispielsweise ausgelotet werden. Er bezieht sich ja stark auf die Konventionen der klassischen Tradition, was bestimmt nicht mit historisierend über einen Kamm zu scheren ist. Das wird gute Architektur. Aber hier sehe ich in der Tektonik der Bekleidung zum Beispiel die Möglichkeit, die Geschichte der logischen Fügung in heutige Bilder weiterzuschreiben.

Wer baut noch mit Backstein, außer Hans Kollhoff und Arno Lederer?

Ach, da könnte ich lange aufzählen. In den Niederlanden denke ich an Geurst & Schulze, office winhov, Happel Cornelisse Verhoeven, biq, Hans van der Heijden, hp architecten ... In England an Tony Fretton, Sergison Bates, Caruso St. John ... Die beziehen sich alle auf architektonische Konventionen, stehen ganz anders vor der Geschichte, als die Superdutch-Vertreter, wo es immer um die Erfindung und das coole Statement geht.

Entspringt die Beschäftigung mit Bötticher und Semper einem aufgeklärt sein wollenden Traditionalismus?

In dem Moment, in dem man sich mit Konventionen beschäftigt: ja. Aber es gibt ja durchaus nicht-traditionelle Arbeiten, beispielsweise von Herzog & de Meuron, die häufig mit Sempers Theorie der Bekleidung in Zusammenhang gebracht werden. Wie für Semper das Material, die Werkzeuge und die Prozeduren der Bearbeitung wichtige Form bedingende Aspekte waren, so sind sie das auch für HdeM. Damit erzielen sie den architektonischen Effekt. Während Semper den ästhetischen Konzepten des 19. Jahrhunderts verpflichtet blieb, beziehen die Schweizer sich auf neuere ästhetische Konzepte, die sie auch in den bildenden Künsten suchen.

Letzte Frage: Wo geht‘s hin mit der Backsteinarchitektur?

Da komme ich noch mal auf Hans Kollhoff zurück. Der arbeitet zwar innerhalb formaler Traditionen, aber mit modernster Vorfertigung. Das wird wichtig bleiben. Im Zusammenhang mit industrieller Fertigung werden auch oft die Experimente von Gramazio Kohler genannt, die mit parametergesteuerten Industrierobotern sehr beeindruckende Backsteinmuster gebaut haben. Doch sehe ich diesen Weg vorläufig als eine Sackgasse an. Auch wenn sich der Prozess des Backsteinstapelns auf eine technische Logik bezieht, scheinen mir die Bilder, die so realisiert werden, relativ beliebig.

Dabei liegt im Mustermachen das eigentliche Potential des Steins. Du erinnerst dich an die gerade im Vortrag gezeigten Musterlandschaften, die Koen Mulder aus dem Backstein und seiner schier unbegrenzten Fügemöglichkeiten heraus entwickelt. Ich denke, dass wir im Nachdenken über die Tektonik der Bekleidung das völlig Willkürliche und Beliebige ausschalten können. Die Logik der Bekleidung erscheint mir zuverlässig auf die Essenz des Bauens zu weisen: auf Schönheit durch lebendige Dauer.

Mit Udo Garritzmann unterhielt sich DBZ-Redakteur Benedikt Kraft am 4.März 2015 im Kloster Gravenhorst, Hörstel, anlässlich des ABC-Architektentages.

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