Die stillen Stars
Klaus Bollinger und Manfred Grohmann, Frankfurt am Main

 
Ihre spektakulären Konstruktionen füllen die Seiten der internationalen Fachpresse und der Feuilletons. Doch die mediale Aufmerksamkeit gilt den Bauherrn und Architekten, die Tragwerksplaner Bollinger und Grohmann bleiben stets im Hintergrund. Sie sind die stillen Stars.

Ob Coop Himmelb(l)au oder Zaha Hadid, ob Dominique Perrault oder Sanaa, ob Frank Gehry oder Peter Cook, ob Boris Podrecca oder Hans Hollein– sie kennen die Haute Volée der Branche nicht aus Zeitschriften oder Vorträgen, sondern von unzähligen Kooperationen: Bollinger und Grohmann bauen derzeit außer in Australien auf allen Kontinenten dieser Erde: in den USA, Mexiko und in Marokko ebenso wie in Lybien; sowohl in Korea als auch in Saudi-Arabien, in Frankreich, Italien, Polen, Russland und so weiter. Wer derzeit in den Kategorien des Immer-höher, Immer-schräger, Immer-überdrehter denkt, wer in der Ökonomie der Aufmerksamkeit Erfolge feiern will, kommt an ihnen kaum vorbei.
Und doch: Der Jet-Set-Glamour, das gefeierte Spektakel ist nur die eine Seite von Bollinger und Grohmann. Neben den klassischen Ingenieurbauwerken wie Brücken, Hafenanlagen oder Schutzdächern liefern sie die Konstruktion für alle Arten des Hochbaus: Schulen, Museen, Stadien, Theater, Werkshallen, Bürogebäude und sogar Wohnungsbau im Passivhausstandard. Bauen im Bestand ohnehin.

Ihre statischen Untersuchungen der Plattenbauten in Leinefelde waren die Voraussetzung für die nicht nur in der Fachwelt berühmt gewordenen Umbauten von Stefan Forster. Für die 1928 nach Plänen Martin Elsässers fertig gestellte, inzwischen denkmalgeschützte Frankfurter Großmarkthalle, die – nach einem furiosen Entwurf von Coop Himmelb(l)au – zur Zentrale der Europäischen Zentralbank umgebaut wird, entwickelten sie ein detailliertes wie überzeugendes Instandsetzungskonzept, das im Einvernehmen mit dem Denkmalschutz die Basis für die architektonischen Interventionen bildet. Ihre bauhistorischen Forschungen spürten sogar die verschiedenen Mörtelzusammensetzungen und -farben auf und lassen hoffen, dass in diesem jahrzehntelang vernachlässigten Gebäude auch die Gestaltungsabsichten Elsässers wieder erfahrbar werden.

Zwischen internationalem Spektakel und lokaler Verortung, zwischen tektonischer Handwerklichkeit und extravagantem Hightech, zwischen Investor und parametrischem Entwerfen, zwischen internationalem Star, national etabliertem Büro und aufstrebendem
Talent: Die Spannweite an Projekten, die das Büro Bollinger und Grohmann seit seiner Gründung im Jahre 1983 zu realisieren half, ist beinahe einzigartig. Ihre Flexibilität auch. Für Bollinger und Grohmann ist das Vokabular, der Entwurfsansatz, das Image letztlich egal. Sie begreifen die Planung eines Gebäudes als ganzheitlichen, integrierten Prozess – und das Tragwerk als einen Teil davon. Wobei es gilt, je nach gewünschtem Ausdruck, alle Elemente in ein Gleichgewicht zu bringen.

Anders als manch ebenso renommierte Tragwerksplaner enthalten sie sich jeder architektonischen Ambition. Sie bleiben im Hintergrund. Und wenn die Architekturkritik einmal Notiz vom Tragwerk nimmt, dann sind „die Statiker“, wie es Oliver Herweg in seiner Besprechung der BMW-Welt schrieb, „die stillen Stars“. Bollinger und Grohmann wollen Partner sein, die mit kongenialen Konstruktionen den Entwurf unterstützen. Und das macht sie zu gefragten Leuten. Bei einigen Wettbewerbsauslobungen reißen sich die Architekten um die Ingenieure – und die Enttäuschung ist groß, wenn sie bereits andernorts engagiert sind.

Doch was macht diese Tragwerksplaner so besonders? Was können sie mehr als ihre Kollegen? Wie ist ihr spezielles Verhältnis zu Architekten? Drei exemplarische Antworten:

Für Christoph Mäckler, der seit gut 20 Jahren mit Bollinger und Grohmann kooperiert, zeichnen diese sich durch ihre „Kreativität und Feinfühligkeit“ aus, die weit über das Berechnen hinausgeht. Peter Cook sagt: „Dem Fehlen jeglicher Überlegenheit und ihrem ruhigen Beantworten fast jeder Frage liegt ein beträchtliches Reservoir an Ideen zugrunde“. Michael Schumacher kennt die beiden schon seit 1986, das Tragwerk für die Projekte des Büros Schneider + Schumacher liefern seitdem fast exklusiv Bollinger und Grohmann. Schumacher spricht von der Möglichkeit, zu Klaus und Manfred „auch ins Unreine sprechen“ zu können – auch wenn Skizzen noch halbfertig, Vorstellungen noch verschwommen, Formulierungen noch fragmentarisch sind.

Laut Manfred Grohmann sei die Offenheit selbst bizarrsten Entwürfen gegenüber, unter anderem der Hochschule geschuldet. Bollinger ist seit 1994 Professor für Tragwerkskonstruktion an Universität für Angewandte Kunst in Wien, Grohmann hat den gleichen Lehrstuhl seit 1996 an der Universität Kassel. Beide lehren freilich nicht an den Fachbereichen für Bauingenieure, sondern für Architekten. „Die Aufgabe des Ingenieurs ist es nicht zu sagen, dass etwas nicht geht, sondern zu sagen, wie es geht.“ Dies schreibt Stefan Polónyi in seinem Buch „Architektur und Tragwerk“. Bei Polóny, der zusammen mit Harald Deilmann in den frühen 1970er Jahren die bis heute modellhafte Fakultät Bauwesen an der Uni Dortmund mit der gemeinsamen Ausbildung von Architekten und Bauingenieuren aufbaute, entdeckten sowohl Klaus Bollinger als auch – vermittelt – Manfred Grohmann jenen ganzheitlichen Ansatz, den sie heute selbst vertreten. Schon während der gemeinsamen Studienzeit an der TU Darmstadt konnten sie mit dem stets und gerne gepflegten Dualismus beider Disziplinen wenig anfangen.

Nach bestandener Prüfung und wenig zufriedenstellender Angestelltentätigkeit wechselte Klaus Bollinger an den Lehrstuhl von Polóny, bei dem er von 1981 bis 1984 Assistent war und promovierte. Grohmann assistierte am Lehrstuhl für Grundbau und Bodenmechanik an der TU Darmstadt. Polónyis Ansatz, dass der Ingenieur kein technokratischer Handlanger sei, sondern ein konstruktiver Partner, der eine kulturelle Verpflichtung habe und die Baugeschichte ebenso wie die tagesaktuelle Architektur studieren müsse – dieser Ansatz begeisterte beide.

Und Polóny half auch bei der weiteren Karriere: Vom Architekturbüro Bremmer + Frielinghaus, Friedberg, wurde er gefragt, ob er nicht beim Wettbewerb für die Ballsport-halle Höchst ins Boot kommen wolle. Doch Polóny war schon engagiert und leitete die Anfrage an seinen Assistenten und dessen Partner weiter. Zwar wurde die von Bollinger und Grohmann mitentwickelte Hängedachkonstruktion, die innovativ mit der Brandschutzproblematik umging, nicht gebaut, doch fielen die beiden dem Archigram-Mitbegründer Peter Cook auf, der zu dieser Zeit zusammen mit Günter Bock die Architekturabteilung der Frankfurter Städelschule leitete. Cook war auf der Suche nach einem Dozenten für die Tragwerkskonstruktion – und fand ihn in Klaus Bollinger. Die Post-Graduate-Studenten am Städel lernten damit plötzlich einen Tragwerksplaner kennen, der nicht, wie andere Statiker, manch allzu kühnes Konzept zerpflückte, sondern engagiert unterstützte.

Die unbedingte Suche nach der jeweils besten Idee und die von Cook geförderte Experimentierlust ist wohl mit ein Grund dafür, weshalb Bollinger und Grohmann sich gerade bei der Realisierung von spektakulären Formen einen ausgezeichneten Ruf erworben haben. Beispiel Blobs: Als Anfang des neuen Jahrtausends die ersten Bubbles gebaut wurden, waren sie ganz vorne dabei: Die Gitterschale der zwei ineinander verschmelzenden Wassertropfen – Messe-Pavillon für BMW für die IAA 1999 – stammte von Bollinger und Grohmann (Architekt: ABB/Bernhard Franken). Die Konstruktion des von Lars Spuybroek entworfenen, biomorphen Son-O-Hauses mit Stahlspanten, die kreuzweise zusammengeschweißt wurden, konzipierten Bollinger und Grohmann. Und als Peter Cook mit dem Kunsthaus Graz – laut SPIEGEL eine „Kreuzung aus einem versteinerten Dinosaurier-Torso und einem gefrorenen Wassertropfen“ – einen seiner wenigen Entwürfe auch realisierte, rief er natürlich die Frankfurter Konstrukteure zur Hilfe. In Zusammenarbeit mit Cook und dessen Partner Colin Fournier entwickelten sie eine Methode, um die zunächst am realen Modell entworfene, zweidimensional gekrümmte Gebäudehülle als digitales 3D-Modell aufzubereiten.

Doch die Bubbles blieben eine Episode, ein Oberflächenphänomen, das die praktischen wie theoretischen Fragen, die die fortschreitende Digitalisierung des Planungsprozesses an die Disziplin Architektur stellte, höchstens aufwarf, aber nicht beantwortete. Zumal die geschlossene Kette zwischen Computer Aided Design und Computer Aided Manufacturing nur behauptet, indes im Baubereich realiter nur in Ansätzen vorhanden war. Von der Animationssoftware, die einen Formenfluss erzeugte und damit dem Architekten die Möglichkeit gab, diesen je nach persönlichen Geschmack einzufrieren und eine baubare Form zu bestimmen, über die digitalisierten 3D-Modelle bis zum parametrischen Entwurfsprozess war es offenbar nur eine Frage der Zeit. Dass Bollinger und Grohmann auch hier an der Spitze liegen und das Büro inzwischen analog der großen Architekturbüros eine eigene „Advanced Geometry Unit“ vorweisen kann, die größtenteils aus Architekten besteht, versteht sich fast von selbst.

Die digital gestützten Konstruktionen gehen inzwischen weit über die tradierten Tragwerkstypologien hinaus. Etwa die BMW-Welt: Wolke wie Wirbel waren eine Vorgabe von Coop Himmelb(l)au, das Tragwerk wurde gemeinsam am digitalen 3D-Modell entwickelt. Das Dach ruht nur auf wenigen Auflagern und Stützen ruht und misst ganze 200 x 120 m. Im Entwurf wurde es mittels angenommener Lastszenarien verformt. Es besteht aus zwei Trägerrosten und dazwischenliegenden diagonalen Fachwerkstreben. Die Biegetragwirkung des Dachrostes geht dabei graduell in die schalenähnliche Tragwirkung des Doppelkegels über.

Die Herausforderung bestand in der Komplexität der Bauteilgeometrien und ihrer Interaktion, denn lokale Änderungen wirkten sich sofort auf das globale Gesamtsystem aus.

Das digitale Potential geht weit über den Workflow von Architekt, Bauingenieur und Metallbauer hinaus. Wie etwa bei Zaha Hadids Hungerburgbahn in Innsbruck, bei der Bollinger und Grohmann im Auftrag der ausführenden Firma das Tragwerk der gekrümmten Dächer planten und die geometrischen Daten für die automatisierte Fertigung lieferten.

Über eine Scripting-Schnittstelle kann man ganze Tragwerksgenerationen nach architektonischen Vorgaben entwickeln. Von der Analysesoftware geprüft, werden die nach Steifigkeit und Materialverbrauch jeweils besten zwei Konstruktionen miteinander gekreuzt, um eine neue Generation zu schaffen. Diese Tragwerke sind besser sind als die Vorgängergeneration. In einem mehrmals wiederholten, stets von Neuem evaluierten Prozess kommt man zu einem idealen Tragwerk, wobei man Mutationen einführen oder Entwurfsparameter jederzeit ändern kann.

Momentan bleibt diese generative Erzeugung von Formen und Strukturen meist noch einschlägigen Unilehrstühle vorbehalten.

Praktische Ansätze gibt es jedoch: Für den Ort Landsweiler-Reden entwickelten Bollinger und Grohmann mit den Saarbrücker Architekten FloSundK eine Fußgängerbrücke. Die Fachwerkträger beschreiben dabei zwei hyperbolische Paraboloide mit dem Effekt, dass die Brücke sich zur einen Seite öffnet und sich die Brüstungen senken. Die Diagonalen zwischen Ober- und Untergurt wurden dabei in einem parametrischen Entwurfsverfahren optimiert.

Das Projektverzeichnis von Bollinger und Grohmann Ingenieure ist in mehr als 25 Jahren Bürotätigkeit vierstellig geworden.

Darunter sind Projekte, bei denen die Konstruktion eine offensichtliche, sichtbare Rolle spielt und Projekte, bei denen sich das Tragwerk im Hintergrund hält. Sie haben Projekte realisiert, bei denen am Anfang nur eine halbfertige Skizze existierte, Projekte, die am digitalen 3D-Modell getestet wurden und Projekte schließlich, die mit digitaler Unterstützung auch eine bauphysikalische und energetische Qualität gewährleisten können.

Aber völlig unabhängig von aller Technik, es macht Spaß, es ist anregend, stimulierend und inspirierend, sich mit Klaus Bollinger, Manfred Grohmann und ihren Mitarbeitern zu unterhalten und zu diskutieren. Das ist wahrscheinlich ihre größte Kompetenz. Enrico Santifaller, Frankfurt

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